Berlin. Dass deutsche “Dschihad-Touristen“ nach Syrien reisen, hat nicht nur die Sicherheitsbehörden auf den Plan gerufen - sondern auch die Wissenschaft.

Der Salafismus in Deutschland hat viele Gesichter - doch keines davon ist dazu angetan, die Sympathie der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu gewinnen. Da ist der zauselbärtige Islam-Missionar, der in der Fußgängerzone kostenlose Koran-Ausgaben verteilt. Es gibt den Frömmler, der bei happeningartigen Veranstaltung mit entrücktem Lächeln von religiösen Erweckungserlebnissen berichtet und den Quietisten, der sich mit seiner vollverschleierten Frau zurückzieht von einer Gesellschaft, deren Werte er ablehnt. Angst und Abscheu ruft der militante Dschihad-Verfechter hervor, der einzelne Überlieferungen aus der Frühzeit des Islam als Lizenz zum Töten missbraucht.

Dass sich Tausende Dschihadisten aus Europa im irakisch-syrischen Kriegsgebiet Terrorgruppen angeschlossen haben, hat eine Flut von Publikationen zur Ausbreitung dieser radikalen Spielart des Islams ausgelöst.

Doch die Autoren der verschiedenen Analysen und Sammelbände, die seit Anfang 2014 auf den Markt gekommen sind, liefern keine einheitlichen Antworten auf die wichtigen Fragen: Hat der deutsche Neo-Salafismus seine Wurzeln in der puritanischen Wahabismus-Bewegung, deren Lehren in Saudi-Arabien Staatsreligion sind? Oder ist er nicht vielleicht doch eher eine Weiterentwicklung islamistischer Tendenzen aus Syrien und Ägypten? Haben Einwanderer das radikale Gedankengut nach Deutschland eingeschleppt? Oder ist der Salafismus in Deutschland nicht doch eher eine wenn auch sehr gefährliche Form von Jugendkultur?

Salafisten - die Punks von heute?

Der kürzlich erschienene Sammelband "Salafismus in Deutschland" liefert zumindest einige interessante Erklärungsmodelle für die Radikalisierung deutscher Muslime und Konvertiten. Eines ist die Abgrenzungsmöglichkeit, die der asketische Lebensstil und die strengen Regeln des Salafismus jungen Menschen liefern, die in einer liberalen Wohlstandsgesellschaft aufwachsen. Nach dieser Theorie wäre der rückwärtsgewandte Neo-Salafismus ein Mittel der Provokation so wie die Null-Bock-Haltung und der damals noch als schrill geltende Look der Punks in den 1980er-Jahren, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

Die Herausgeber von "Salafismus - Auf der Suche nach dem wahren Islam" (Benham T. Said und Hazim Fouad) sehen auch hinter dem Drang einiger Salafisten, sich in Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Somalia oder Tschetschenien dem "internationalen Dschihad" anzuschließen, eher persönliche Motive. Sie unterstellen den deutschen "Dschihad-Touristen" romantisierende Vorstellungen von einem Kampf für die "gute Sache", Mann gegen Mann. Im Kampfgebiet angekommen, setze bei der Mehrheit der "Möchtegern-Gotteskrieger" dann aber oft eine große Ernüchterung ein, betonen sie. Eine wichtige Rolle dürfte bei den Dschihad-Ausreisen sicher auch der Gruppendruck spielen - ähnlich wie er bei Mutproben unter Kindern entsteht.

Radikalisiert durch den Irak-Krieg der USA?

Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erwähnt in "Al-Qaidas deutsche Kämpfer" vor allem die Irak-Invasion unter Führung der USA 2003 als frühen Radikalisierungsfaktor für Muslime in Deutschland. Dass sich in den vergangenen Jahren viele Salafisten auf den Weg von Deutschland nach Syrien gemacht haben, führt er unter anderem auf die weite Verbreitung von Bildern von Verbrechen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad zurück. Zudem auf die Tatsache, dass es für deutsche Staatsbürger leicht sei, ins Kampfgebiet zu gelangen, was beispielsweise bei Pakistan nicht der Fall sei.

Da die Radikalisierungszyklen der deutschen Dschihadisten immer kürzer werden, haben die Sicherheitsbehörden Probleme, die komplette Szene im Blick zu behalten. Das mache auch die Prävention schwierig, klagen die Experten. Thomas Lemmen, einer der Autoren von "Salafismus in Deutschland", rät zumindest dringend davon ab, Salafisten-Prediger in Talkshows oder Podiumsdiskussionen als Vertreter "des Islams" reden zu lassen. Da die Salafisten nur für eine kleine Gruppe der hierzulande lebenden Muslime sprächen, sei das, als würde man "einen Rechtsextremisten zu einer Diskussion über Demokratie oder jemand aus der Piusbruderschaft zu Religionsfreiheit einladen". (Anne-Beatrice Clasmann, dpa)