Essen. . Arbeitgeber und viele Politiker nennen Hartz IV einen Erfolg. Doch Armutsforscher Christoph Butterwegge sagt, die Gesellschaft sei gespalten worden.

Kaum ein Gesetzesvorhaben war in der Geschichte der Bundesrepublik so umstritten wie das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, besser bekannt unter Hartz IV. Am 1. Januar vor zehn Jahren wurde es scharf geschaltet. Befürworter feiern es als Erfolg und verweisen auf die gesunkenen Arbeitslosenzahlen. Gegner wie der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge betonen hingegen, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Armut in den vergangenen zehn Jahren zugenommen haben.

Herr Butterwegge, die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken. 2005 war noch 4,9 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, heute sind es 2,9 Millionen. Ist die Geschichte von Hartz IV eine Erfolgsgeschichte?

Christoph Butterwegge: Ich sehe da keinen kausalen Zusammenhang. Wir haben in diesem Jahr auch mehr Geburten in Deutschland und mehr Störche. Niemand käme auf den Gedanken zu sagen, die Klapperstörche haben die Kinder gebracht. Und selbst wenn Hartz IV zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen hätte, wäre der Preis, den das Land dafür bezahlt hat, viel zu hoch.

Wieso das? Deutschland steht blendend da.

Butterwegge: Das gilt auf keinen Fall für die von Hartz IV Betroffenen. Sie werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Sozialer Status und materielle Sicherheit sind gefährdeter denn je, es herrscht mehr Angst in der Gesellschaft. Die Kinderarmut ist gestiegen und der Niedriglohnsektor wurde ausgebaut .

Ohne die Hartz-IV-Reformen stünde Deutschland heute aber schlechter da, sagen die Befürworter. Haben sie etwa unrecht?

Butterwegge: Dafür gibt es keinen Beleg. Klar ist aber, dass die Armutsquote gestiegen ist. Das wir mehr Beschäftigungsverhältnisse haben, bestreite ich nicht. Aber das Gesamtarbeitsvolumen ist seit 2005 nicht größer geworden. Das Arbeitsvolumen wird einfach auf mehr Beschäftigte verteilt, weil es mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse gibt, also Mini- oder Midi-Jobs, Leiharbeit oder Zwangsteilzeit. Man hat vielleicht dafür gesorgt, dass mehr Menschen in Beschäftigung sind, aber nicht dafür, dass sie so bezahlt werden, dass sie sich und ihre Familien ernähren können.

Die deutschen Arbeitsmarktreformen gelten trotzdem als vorbildlich in Europa. Können sich andere Länder eine Scheibe abschneiden?

Butterwegge: Ich halte davon gar nichts. Das Modell von Hartz IV war eine Lohndumpingstrategie. Mit der ist in der Tat der Wirtschaftsstandort Deutschland noch konkurrenzfähiger geworden. Hartz IV war die Keule, mit der insbesondere die südeuropäischen Peripherieländer nieder konkurriert worden sind. Die haben dann mit Krediten die stärkeren Importe finanziert. Daraus ist das erwachsen, was wir heute als Euro- oder Staatsschuldenkrise kennen. Hartz IV hat in Südeuropa viel Armut und Elend hervorgerufen. Das anderen zu empfehlen, bedeutet einen Lohnkosten- und Sozialstandard-Senkungswettbewerb anzustoßen. Wenn andere das übernehmen, wird die Bundesregierung an neue Sozialreformen herangehen, damit Deutschland konkurrenzfähig bleibt. Dann wird es allen schlechter gehen.

Allen mit Sicherheit nicht. In den vergangenen Jahren ist die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergegangen.

Butterwegge: Natürlich haben Unternehmer, Manager, Personalchefs und Aktionäre von Hartz IV profitiert. Niedrigere Löhne bedeuten höhere Gewinne. Die, die anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums am 1. Januar mit Champagner anstoßen können, sind eher in den besseren Kreisen unserer Gesellschaft angesiedelt. Die Hartz-IV-Betroffenen sind dagegen abgehängt, resignieren, gehen kaum noch zu Wahl. Hartz IV hat die Gesellschaft nicht nur sozial, sondern auch politisch gespalten und hat die Demokratie beschädigt.

Die Gewerkschaften drängen jetzt auf Korrekturen bei Hartz IV, etwa auf stärkere Vermittlungsbemühungen bei Langzeitarbeitslosen. Was ist davon zu halten?

Butterwegge: Man kann von einem historischen Versagen der Gewerkschaften sprechen, weil sie sich damals in den rot-grünen Reformprozess haben einbinden lassen. So wurde nicht erkannt, dass ein noch breiterer Niedriglohnsektor das Ziel der Hartz-Reform war. Peter Hartz war schließlich nicht bloß Arbeitsdirektor bei VW, sondern auch ein prominentes Mitglied der IG Metall. Das hat viele Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschafter zu Unrecht beruhigt.

Ist Hartz IV denn überhaupt reformierbar?

Butterwegge: Ich halte das eigentlich für unmöglich. Es müsste eine Rückabwicklung geben und eine den Lebensstandard von Langzeitarbeitslosen sichernde Lohnersatzleistung wie die Arbeitslosenhilfe. Das ist politisch nicht machbar. Zumindest müsste der Regelsatz 100 Euro höher sein. Dazu sollte es eine Energiekostenpauschale geben, weil die Energiekosten viel zu niedrig angesetzt sind. Und man muss an die Sanktionen ran, insbesondere an die für junge Menschen unter 25 Jahre. Für unter 25-Jährige werden derzeit bei der zweiten Pflichtverletzung nicht nur Geldleistungen gestrichen, sondern auch die Zahlungen von Heiz- und Mietkosten. Über die Sanktionen produziert der Staat Obdachlosigkeit bei jungen Menschen. Das ist völlig verrückt und bedarf der Reform.

In seinem gerade erschienen Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten; 16,95 Euro bei Beltz Juventa) zieht Christoph Butterwegge eine umfangreiche und ernüchternde Bilanz der Hartz-IV-Reform. Interessant insbesondere sein Exkurs in die Geschichte: Bereits 1928 forderte ein wirtschaftsliberaler Reichstagsabgeordneter die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Sein Name: Hartz. Allerdings Gustav mit Vornamen.

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