Essen. Im Streit um die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen hat Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) zu einem NRW-Pakt zwischen Landesregierung, Opposition und heimischer Wirtschaft aufgerufen. Im Interview mit dieser Redaktion sagte die Politikerin, NRW sei kein Bittsteller.
Flüchtlingsskandal, Hooligan-Krawalle, Finanzprobleme – der Wind bläst Hannelore Kraft (53) zurzeit recht böig entgegen. Dennoch sagt die Ministerpräsidentin nicht Nein, als unser Fotograf sie beim Besuch der Essener Redaktion mit dem Wunsch überfällt, ein Bild von ihr auf dem zugigen Dach des Redaktionsgebäudes zu machen. Das Gespräch mit der Mülheimer SPD-Politikerin fasste Tobias Blasius zusammen.
Die Halbzeitbilanzen zur Mitte Ihrer zweiten Amtszeit fallen kritisch aus. Ist Rot-Grün in der Krise?
Hannelore Kraft: Nein, die Koalition arbeitet stabil und gut zusammen. Richtig ist, dass wir zuletzt schwierige Situationen wie die Misshandlungen in Flüchtlingsheimen des Landes oder die Hooligan-Krawalle in Köln zu bewältigen hatten. Das waren schlimme Vorkommnisse, schlimme Bilder. Wir sind aber bei der Aufarbeitung keine Antwort schuldig geblieben, haben Verantwortung übernommen und Fehler klar benannt und sind dabei, sie abzustellen.
Bund und Länder müssen bis 2019 den Länderfinanzausgleich und den Solidarpakt Ost neu verhandeln. Sie wirken ziemlich entschlossen, für NRW mehr rauszuholen. Kann das funktionieren?
Kraft: Die Finanzbeziehungen zwischen den Ländern sind kein Ausgleichssystem mehr, es findet eine Überkompensation statt. Nordrhein-Westfalen gilt als Nehmerland, weil wir 700 Millionen Euro aus dem engeren Länderfinanzausgleich erhalten. Aber dabei wird ignoriert, dass wir durch den vorgeschalteten Umsatzsteuerausgleich 2,4 Milliarden Euro abgeben müssen. Unterm Strich zahlen wir also 1,7 Milliarden Euro ein.
Sollen die anderen Länder künftig Ihren Haushalt sanieren?
Kraft: Davon kann überhaupt keine Rede sein. Wir sind ein starkes Land mit hoher Wirtschaftskraft. Wir wollen mehr von dem behalten, was bei uns erwirtschaftet wird. Vor allen Umverteilungsmechanismen hat Nordrhein-Westfalen ein um 1000 Euro pro Einwohner höheres Steueraufkommen als Sachsen. Nach Umverteilung hat Sachsen 500 Euro pro Einwohner mehr als wir und mahnt uns öffentlich, doch bitte mehr zu sparen. Und das, obwohl wir die niedrigsten Pro-Kopf-Ausgaben aller Länder haben. Das kann strukturell so nicht bleiben.
Aber das Sparen wird Ihnen niemand abnehmen.
Kraft: Wir sparen allein 1,5 Milliarden Euro im Haushalt 2015. Würde NRW so viel ausgeben wie der Durchschnitt aller westdeutschen Flächenländer, könnten wir 5,6 Milliarden Euro mehr investieren. Würden wir uns am Durchschnitt der ostdeutschen Länder orientieren, wären es sogar rund 15 Milliarden Euro.
NRW war als bevölkerungsreichstes Land in einer Mittlerrolle bei Bund-Länder-Verhandlungen. Ist das nicht mehr Ihre Rolle?
Kraft: Wir werden weiter solidarisch bleiben. Doch ich sage sehr klar: Eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen kann es nur geben, wenn die Interessen Nordrhein-Westfalens angemessen berücksichtigt werden. Es kann nicht sein, dass hier bei uns, wo knapp 22 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung erbracht wird, die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wird, weil unsere Steuerkraft über Gebühr umverteilt wird. Es geht um die Interessen unseres Landes! Nachdem dies auch die Wirtschaft in NRW unterstützt, sollte es ein breites politisches Bündnis geben – da ist auch die Opposition gefragt, sich mit uns gemeinsam für die Interessen Nordrhein-Westfalens einzusetzen. Ich bin gespannt, ob es hier Unterstützung gibt.
Was soll aus dem Ost-Soli nach 2019 werden?
Kraft: Wir sind dagegen, aus dem Solidarpakt Ost nach 2019 einen Solidarpakt für Bedürftige in Gesamtdeutschland zu machen. Denn wir sind keine Bittsteller. Nach unseren Vorstellungen soll der Soli, der 2019 alleine an den Bund fließt, in das Steuersystem integriert werden. Dann profitieren alle Länder und Kommunen ebenfalls. Das Geld können wir dann sinnvoll für Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur bei uns einsetzen.
Besondere Interessen verfolgt NRW auch im Streit um die Zukunft der Kohleverstromung. Wird es zu Zwangsabschaltungen von alten Meilern kommen?
Kraft: Wir verfolgen in der Energiepolitik ein Zieldreieck: Sicher, sauber und bezahlbar. Ich muss als nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin darauf achten, dass dieses Dreieck gleichschenklig bleibt. Wir sind nicht bereit, durch falsche Gewichtung z.B. eine Deindustrialisierung zu riskieren. Um Versorgungssicherheit wirklich sicherstellen zu können, werden fossile Kraftwerke noch lange unverzichtbar sein.
Also bleiben auch die schmutzigsten Kohlekraftwerke am Netz?
Kraft: Wir nehmen unsere Klimaziele sehr ernst und würden uns natürlich wünschen, dass die Kraftwerke mit dem größten CO2-Ausstoß zuerst abgeschaltet werden. Allerdings geht es im Kern um unternehmerische Entscheidungen. Und nicht zu vergessen, bei den Energieversorgungskonzernen und Stadtwerken arbeiten viele Tausende. Unsere sichere Stromversorgung basiert auf einem ausgeklügelten Kraftwerksmanagement. Dieses wird nach dem Aus der letzten deutschen Atomkraftwerke noch anspruchsvoller sein, damit Versorgungsengpässe vermieden werden können.
2015 stehen in den großen NRW-Städten Köln und Essen Oberbürgermeister-Wahlen an. Nimmt die SPD-Landeschefin Kraft Einfluss auf die Kandidatenkür vor Ort?
Kraft: Nein. Die Kandidatenaufstellung liegt in der Verantwortung der Parteifreunde vor Ort.
Im Strukturwandel der 80er Jahre gab es an Rhein und Ruhr diesen trotzigen „Wir in NRW“-Stolz. Ist diese Identifikation mit dem Bundesland verloren gegangen?
Kraft: Das ist nicht meine Wahrnehmung. Ich bin davon überzeugt, dass die allermeisten Menschen - genauso wie ich - gerne hier leben und auch stolz auf ihre Heimat blicken. Der von interessierter politischer Seite manchmal erweckte Eindruck, wir wären kein wirtschaftlich starkes Land, geht vollkommen an der Realität vorbei. Wir gehören zu den stärksten Industrieregionen und reichsten Kulturlandschaften im Herzen Europas. Ich bin wie Millionen andere in diesem Land stolz auf unser liebenswertes und weltoffenes Nordrhein-Westfalen.