Dortmund/Köln. Der Nationalsozialistische Untergrund um Beate Zschäpe hat auch in NRW seine Spur hinterlassen. Die Ermittler tappten lange im Dunkeln.

Ein Granitstein an der Mallinckrodtstraße in der Dortmunder Nordstadt. Darauf steht: „Zum Gedenken an Mehmet Kubaşik - ermordet am 4. April 2006 durch rechtsextreme Gewalttäter.“ Kubaşik war ein Opfer der rechtsextremen Bande, die sich Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nannte.

Ein Gedenkstein für den vom NSU ermordeten Kioskbesitzer Mehmet Kubasik ist vor seinem ehemaligen Kiosk, in dem sich jetzt ein Reisebüro befindet, in den Boden eingelassen.
Ein Gedenkstein für den vom NSU ermordeten Kioskbesitzer Mehmet Kubasik ist vor seinem ehemaligen Kiosk, in dem sich jetzt ein Reisebüro befindet, in den Boden eingelassen. © dpa | Ina Fassbender

An jenem Tag steht der türkischstämmige Kioskbetreiber Kubaşik (39) hinter der Verkaufstheke, als zwei Männer durch die Eingangstür des Ladens treten: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wie sich später herausstellen wird. Sie töten den dreifachen Vater mit mehreren Schüssen in den Kopf. Eine Kundin entdeckt den Mann wenig später. Retten kann sie ihn nicht mehr.

Mehmet Kubaşik ist das achte von zehn Opfern

Zwischen 2000 und 2007 tötete das Neonazi-Terrortrio NSU zehn Menschen in deutschen Großstädten, neun türkisch- oder griechischstämmige Kleinunternehmer und eine Polizistin.

Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn durch die Neonazi-Terrorzelle NSU Ermordeten. (oben, v.l.) Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und die Polizistin Michele Kiesewetter, sowie (unten, v.l) Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat.
Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn durch die Neonazi-Terrorzelle NSU Ermordeten. (oben, v.l.) Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und die Polizistin Michele Kiesewetter, sowie (unten, v.l) Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat. © dpa | dpa

Mehmet Kubaşik war das achte Opfer. Erst mehr als fünf Jahre nach dem Mord an Kubaşik, als Mundlos und Böhnhardt im November 2011 tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden werden und ihre Komplizin Beate Zschäpe ihre Wohnung in Zwickau abbrennt, Bekennervideos verschickt und sich stellt. Bis dahin hat die Polizei rechtsextreme Hintergründe der Verbrechen weitgehend ausgeschlossen, die Ermittler fahndeten nach den Tätern vor allem im Umfeld der Opfer.

Elif Kubaşik, die Witwe des Ermordeten, und ihre Kinder machen nach dem Mord schlimme Zeiten durch. Die Polizei kommt erst gar nicht auf die Idee, es könnten Neonazis am Werk gewesen sein. Selbst die Aussage einer Zeugin, die zu Protokoll gibt, sie habe zwei Männer in der Nähe gesehen, Junkies oder Nazis, bringt die Ermittler nicht auf den richtigen Weg.

Es reiht sich Ermittlungsfehler an Ermittlungsfehler

Jahrelang steht das Opfer im Verdacht, ein Täter zu sein, verstrickt in Drogengeschäfte. Die Information, die in Richtung brauner Sumpf hätte weisen können, versickert zwischen Dortmunder Polizei und der zentralen Ermittlungseinheit „Bosporus“ in Bayern. Bei den Morden reiht sich Ermittlungsfehler an Ermittlungsfehler. „Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Tat einen rechtsextremen Hintergrund hat“, sagte dagegen Kubaşiks Tochter Gamze im Fernsehen bei Günter Jauch.

Andere Motive habe sie sich nicht vorstellen können, weil ihr Vater nichts mit dunklen Geschäften zu tun gehabt habe. Die Fehler und Versäumnisse bei den Geheimdiensten, die bei der Aufarbeitung der NSU-Mordserie zu Tage traten, wurden zu einem Skandal für sich. So vernichteten Beamte des Verfassungsschutzes wichtige Dokumente, weshalb 2012 die Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und der Landesbehörden Thüringens, Sachsens und Berlins von ihren Ämtern zurücktraten. Mehrere NSU-Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in acht Landtagen untersuchten den Einsatz von V-Leuten, Ermittlungspannen, organisatorische Defizite und mögliche lokale Unterstützer. Der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Gehilfen begann im Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München.

Am 11. Juli 2018 wurde Zschäpe als Mittäterin der Morde und Sprengstoffanschläge, wegen Mitgliedschaft im NSU und wegen schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier weitere NSU-Helfer erhielten Freiheitsstrafen.

"Im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden"

Wie schon die Ermittlungen, so wurde für die Angehörigen von Mehmet Kubaşik auch der Prozess eher eine Enttäuschung. Die Witwe Kubaşiks kritisierte schon während des noch laufenden Verfahrens eine unzureichende Aufklärung des Verbrechens. „Hier im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden“, sagte Elif Kubaşik in ihrem Plädoyer vor dem Oberlandesgericht München. „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund?“, fragte sie.

Elif (re.) und Gamze Kubaşik, die Ehefrau und die Tochter des am 4. April 2006 ermordeten Dortmunders Mehmet Kubaşik. Foto: Federico Gambarini/Archiv
Elif (re.) und Gamze Kubaşik, die Ehefrau und die Tochter des am 4. April 2006 ermordeten Dortmunders Mehmet Kubaşik. Foto: Federico Gambarini/Archiv © zgt

Unklar sei auch, was der Staat über den NSU gewusst habe. Elif Kubaşik greift auch die damalige Hauptangeklagte Beate Zschäpe direkt an: Es sei schwer für sie, den Anblick dieser Frau auszuhalten. Deren Aussage sei „einfach ekelhaft“ gewesen. „Es ist alles Lüge, was sie sagte.“ Auch die Form, wie sich Zschäpe entschuldigt habe, sei verletzend und beleidigend gewesen.

Bombenanschläge in Köln 2001 und 2004

Auch zwei Bombenanschläge 2001 und 2004 in Köln gehen auf das Konto des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Das ließ die Hauptangeklagte Beate Zschäpe im Münchner Prozess über einen ihrer Anwälte verlesen. Zschäpe selbst bestritt, an den Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. Ihr zufolge war es ihr Freund Uwe Böhnhardt, der im Januar 2001 in einem iranischen Lebensmittelgeschäft einen Korb mit dem Sprengsatz deponierte. Bei der Explosion wurde die 19-jährige Tochter des Inhabers schwer verletzt. Vom Bau der Bombe habe Zschäpe nichts mitbekommen, so Zschäpe, Böhnhardt habe die Bombe gebaut, sein Komplize Mundlos vor dem Geschäft gewartet.

Der Tatort des vom NSU verübten Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße.
Der Tatort des vom NSU verübten Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße. © dpa | Federico Gambarini

Drei Jahre später, im Juni 2004, wurden in der Kölner Keupstraße durch eine Nagelbombe mehr als 20 Menschen verletzt, einige lebensgefährlich. Der Inhaber eines Cafés erinnerte sich später an die Tat.“ Es floss Blut aus meinen Ohren, sagte er. „Erst dachten wir an eine Gasexplosion, aber dann sahen wir die Nägel.“ Auf einem Video war zu sehen, wie ein mutmaßlicher Täter ein Fahrrad über den Bürgersteig schiebt. Später wurden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf dem Video identifiziert. Die Bombe war auf einem Fahrrad montiert, das an die Fassade eines Friseursalons gelehnt war.

Ein terroristischer Hintergrund wurde zunächst ausgeschlossen

Um die Ermittlungen nach dem Anschlag gab es später immer wieder Kontroversen. Der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) hatte am Tag danach einen terroristischen Hintergrund ausgeschlossen. Die Polizei hatte die Urheber, ähnlich wie im Mordfall Kubaşik in Dortmund, im kriminellen Milieu vermutet. Der Nebenkläger Anwalt Yavuz Narin warf dem Bundeskriminalamt (BKA) vor, die Überwachungsvideos vom Tatort nicht vollständig ausgewertet zu haben.

Einen Ort des Gedenkens, wie das Mahnmal für den Mord an Mehmet Kubaşik in Dortmund, gibt es in der Kölner Keupstraße bis heute nicht. Eine Initiative, die die Erinnerung an den Bombenanschlag wach hält, forderte im Frühjahr 2020 in einem offenen Brief die Stadtspitze auf, „einen Lern- und Erinnerungsort in Gedenken an die Opfer der rassistischen Anschläge des Nazi-Netzwerks NSU“ zu schaffen. Weiter heißt es in dem Aufruf: „20 Jahre nach dem ersten Mord an Enver Şimşek wollen wir es nicht mehr hinnehmen, dass in allen Städten, in denen der NSU gemordet oder Anschläge begangen hat, sichtbar und dauerhaft daran erinnert wird, nur in Köln nicht."

„Wir fordern Sie auf, endlich aktiv zu werden.“

Zehn Menschen sollen die Mitglieder des NSU umgebracht haben. Zwischen 2000 und 2007 töteten sie acht türkischstämmige, einen griechichstämmigen Kleinunternehmer und eine Polizistin. Eine Übersicht über die Verbrechen:

  • 9. September 2000, Nürnberg: Mundlos und Böhnhardt überraschen den türkischen Blumenhändler Enver Şimşek (38) beim Sortieren von Pflanzen in seinem Kleintransporter. Sie feuern neunmal auf den Vater von zwei Kindern. Şimşek stirbt zwei Tage später an den Folgen seiner Schussverletzungen.
  • 19. Januar 2001, Köln: In einem iranischen Lebensmittelgeschäft explodiert ein Sprengsatz. Die 19-jährige Tochter des Inhabers wird schwer verletzt. Einer der NSU-Terroristen soll die Bombe in dem Laden deponiert haben - versteckt in einer Christstollendose.
  • 13. Juni 2001, Nürnberg: Abdurrahim Özüdogru arbeitet in seiner Änderungsschneiderei, als die Terroristen den Laden betreten und zweimal auf ihn schießen. Der 49-jährige Türke stirbt noch am Tatort. Er hinterlässt eine Tochter.
  • 27. Juni 2001, Hamburg: Mundlos und Böhnhardt töten den türkischen Händler Süleyman Tasköprü mit drei Kopfschüssen in seinem Lebensmittelgeschäft. Der 31-Jährige hinterlässt eine Tochter.
  • 29. August 2001, München: Habil Kilic steht hinter dem Verkaufstresen, als die Mörder in sein Gemüsegeschäft kommen und unvermittelt auf ihn schießen. Eine Kundin findet den 38-Jährigen wenig später. Für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Kilic hinterlässt eine Tochter
  • 25. Februar 2004, Rostock: Mundlos und Böhnhardt töten den türkischen Imbissverkäufer Mehmet Turgut in einem Döner-Grill. Sie feuern viermal auf den 25-Jährigen. Turgut lebte eigentlich in Hamburg, in Rostock war er nur zu Besuch. In dem Imbiss half er aus. Der junge Mann war unverheiratet und kinderlos.
  • 9. Juni 2004, Köln: Die Terroristen zünden eine Nagelbombe in der Keupstraße - vor einem türkischen Friseursalon. Der Sprengsatz ist auf dem Gepäckträger eines Fahrrads befestigt. Die Wucht der Explosion lässt Fenster noch in mehr als 200 Meter Entfernung zu Bruch gehen. 22 Menschen werden verletzt, einige lebensgefährlich.
  • 9. Juni 2005, Nürnberg: Ismail Yasar wird in seinem Döner-Imbiss getötet. Die Rechtsterroristen schießen den 50-jährigen Türken kaltblütig nieder. Er hinterlässt einen Sohn.
  • 15. Juni 2005, München: Mundlos und Böhnhardt tauchen plötzlich in dem Schlüsseldienst auf, den der Grieche Theodoros Boulgarides gemeinsam mit einem Partner betreibt. Den 41-Jährigen treffen drei Schüsse in den Kopf. Der zweifache Vater stirbt noch am Tatort.
  • 4. April 2006, Dortmund: Der türkischstämmige Kioskbetreiber Mehmet Kubaşik (39) steht hinter der Verkaufstheke, als seine Mörder durch die Eingangstür des Ladens treten. Mundlos und Böhnhardt töten den dreifachen Vater mit mehreren Schüssen. Eine Kundin entdeckt ihn wenig später. Retten kann sie ihn nicht.
  • 6. April 2006, Kassel: Halit Yozgat betreibt ein Internet-Café in der Innenstadt. Mehrere Kunden sind zum Telefonieren und Chatten in dem Geschäft, als Mundlos und Böhnhardt den Laden betreten. Unter den Kunden ist auch ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Yozgat sitzt hinter seinem Schreibtisch, ihn treffen zwei Schüsse in den Kopf. Keiner der Anwesenden will die Täter gesehen haben. Yozgat wird 21 Jahre alt, Kinder hatte der türkischstämmige Mann nicht.
  • 25. April 2007, Heilbronn: Die Polizistin Michèle Kiesewetter (22) und ihr Kollege (24) machen eine Pause auf der Theresienwiese. Die beiden sitzen in ihrem Streifenwagen, als Mundlos und Böhnhardt sich dem Auto nähern und auf sie schießen. Kiesewetter stirbt noch am Tatort. Ihr Kollege überlebt schwer verletzt.