Düsseldorf. Der Virologe Hendrik Streeck über seine einzigartige Heinsberg-Studie, Lockerung der Kontaktverbote und selbstgebastelten Mundschutz.
Professor Hendrik Streeck meldet sich am Wochenende gehetzt, aber freundlich aus einer Förderschule in Gangelt im Kreis Heinsberg. Dort leitet der Virologe des Universitätsklinikums Bonn, der zum engsten Beraterkreis von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zählt, die wohl meist beachtete Studie Europas: Welchen genauen Weg nimmt die Corona-Pandemie?
Herr Professor Streeck, seit einer Woche haben Sie sich mit einem großen Forscherteam in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg einquartiert, um die Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland besser verstehen zu lernen. Wie genau gehen Sie vor?
Hendrik Streeck: Wir sind insgesamt bereits seit drei Wochen vor Ort, um Covid-19 im bundesweit am stärksten betroffenen Kreis zu erforschen. In dieser Zeit haben wir wichtige Erkenntnisse über das Virus selbst gewonnen. Jetzt geht es darum, die Gemeinde Gangelt als Miniatur-Deutschland genauer zu analysieren, um das Ausbreitungsverhalten von Covid-19 nachvollziehen und daraus Schlüsse für die Eindämmung ziehen zu können. Dankenswerterweise Weise finanziert das Land NRW unsere Studie.
Wie kann man von einen 12.000-Einwohner-Ort wie Gangelt auf ganz Deutschland schließen?
Streeck: Um eine gesicherte Datenbasis zu bekommen, haben wir 1000 Gangelter Bürger ausgewählt und eingeladen, die zugleich repräsentativ sind für die bundesweite Bevölkerung. Wir haben uns zusammen mit der Kreisverwaltung Heinsberg eine Schule als vorübergehendes Institut eingerichtet und führen dort zahlreiche Untersuchungen durch. Wir nehmen dort Blut und einen Abstrich ab, erfassen aber auch sehr umfangreich Symptome, Vorerkrankungen, das soziale Umfeld und mögliche Kontakte zu Infizierten.
Mit welchem Ziel?
Streeck: Mir ist wichtig, dass wir endlich mehr verlässliche Fakten schaffen. Wir reden in Deutschland viel über das Abflachen der Infektionskurve als Ziel aller drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Das sind aber alles nur mathematische Berechnungen. Es ist wichtig zu verstehen, wieviele Menschen schon mit Covid-19 infiziert waren oder sind und gar nichts davon wissen. Nur wenn wir die Dunkelziffer der Infizierten bestimmen, können wir die Sterblichkeitsrate bei diesem neuartigen Corona-Virus wirklich seriös berechnen. Die Weltgesundheitsorganisation hat eine solche Studie, wie wir sie jetzt erstmals an einem Ort wie Gangelt mit hohen Infektionszahlen durchführen, schon vor geraumer Zeit angemahnt.
Heißt das, Gangelt selbst könnte schon über den Berg sein?
Streeck: Wir haben einige Hinweise, dass Gangelt tatsächlich schon durch sein könnte mit dem Corona-Virus. Hier gab es sehr viele Infektionen und gemessen am Bundesschnitt extrem viele Tests. Wir gehen deshalb davon aus, dass sich in Gangelt bereits eine Herdenimmunität entwickelt haben dürfte.
Haben Sie inzwischen eine Vermutung, wie das Corona-Virus überhaupt in den Kreis Heinsberg gekommen ist?
Streeck: Das herauszufinden, ist ebenfalls Teil der Studie. Wir haben alle Teilnehmer der inzwischen berühmten Gangelter „Kappensitzung“...
...bei der sich an Karneval das Virus offenbar erstmals im Kreis Heinsberg verbreitet hat.
Streeck: Wir haben die Sitzungsteilnehmer ausfindig gemacht und eingeladen zum Interview und zur Blutentnahme. Wir fragen, wo sie gesessen, was sie getrunken und mit wem sie gesprochen haben, wie oft sie zur Toilette gegangen sind und an welcher Tanzgruppe sie teilgenommen haben. Nur so können wir verstehen, welchen Weg das Virus genommen hat.
Kann der Kreis Heinsberg auch bei der Lockerung der Kontaktverbote in Deutschland als Anschauungsobjekt dienen?
Streeck: Ich bin zuversichtlich, dass wir hier Lösungsansätze für die Lockerung von Kontaktverboten finden können. Aber mir ist sehr wichtig, mit konkreten Vorschlägen erst nach konkreten Studienergebnissen zu kommen.
Warum wirken Sie offener für Lockerungen der Kontaktverbote als andere Virologen?
Streeck: Ich bin ja nicht nur Virologe, sondern auch Mensch. Ich finde, dass die gegenwärtigen Maßnahmen für das gesamte gesellschaftliche Leben schon sehr einschneidend sind. Aber: Das heißt nicht, dass Wirtschaft und Freiheitsrechte gegen Menschenleben abgewogen werden sollten. Es muss klar sein, dass wir Virologen nur die Faktenbasis schaffen können, was epidemiologisch sinnvoll erscheint. Über die Verhältnismäßigkeit der Mittel muss dann die Politik entscheiden. Aber nur, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, kann man richtige Entscheidungen treffen.
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Können Sie guten Gewissens der Politik raten, am 20. April wieder die Schulen zu eröffnen?
Streeck: Da lässt sich zurzeit leider noch kein fundierter Rat geben. Es ist nicht leicht, das Risiko zu berechnen. Wir wissen, dass die allermeisten Kinder gut mit einer Infektion umgehen können. Es gibt aber noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber, wie oft Kinder ihre Eltern oder Großeltern unbemerkt anstecken. Wenn wir die Schulen zu früh wieder öffnen, schaffen wir womöglich einen Multiplikator für das Virus, der dann wieder gefährlich sein kann.
Kann man sich eigentlich an der Türklinke oder am Griff des Einkaufswagens infizieren?
Streeck: Wir können das Virus bislang zwar auf Gegenständen nachweisen, aber es war nicht mehr anzüchtbar, also nicht mehr fähig, andere Zellen zu infizieren. Jetzt werden wir noch einmal Abstriche unter Idealbedingungen nehmen und damit so tun, als ob man eine Türklinke ablecken würde. Dann sind wir ganz sicher.
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Was halten Sie vom selbstgebastelten Mundschutz?
Streeck: Ich finde einen selbstgebastelten Mundschutz gut und er funktioniert auch, wenn man andere Menschen vor den eigenen Partikeln schützen will. Wenn man selbst erkrankt ist, schützt er andere und ist ein Zeichen der Solidarität mit den Mitmenschen. Es wäre aus meiner Sicht sinnvoll, bei einer schrittweisen Lockerung von Kontaktverboten zugleich die Ausgabe von mehr nicht-medizinischen Schutzmasken für die Bürger als eine Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
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Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff gegen Covid-19?
Streeck: Das kann ich seriös nicht prognostizieren. Manchmal geht es mit einem Impfstoff ganz schnell wie bei Ebola und Zika, manchmal dauert es extrem lange wie bei Hepatitis C oder HIV. Wir werden sehr bald ein Impfstoff-Konstrukt gegen Covid-19 haben, das man testen kann. Ob es wirklich effektiv schützt, weiß man leider erst sehr viel später.
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• ZUR PERSON:Hendrik Streeck (42) kann sich zurzeit vor Anfragen kaum retten. Der Virologe des Universitätsklinikums Bonn tritt fast täglich im Fernsehen auf, um die Corona-Pandemie zu erklären. Der Spitzenforscher hat die seltene Gabe, allgemeinverständlich das Wesen einer Infektion zu erklären.
Als Motivation für seinen Werdegang als Virologe nennt er den Hollywood-Film „Outbreak“ mit Dustin Hoffman in den 90er Jahren. Der in Göttingen aufgewachsene Professor ist in Fachkreisen eigentlich als Experte für HIV-Forschung bekannt. Nach Jahren in den USA – unter anderem an der Harvard Medical School – baute Streeck ab 2015 zunächst am Uniklinikum Essen ein neues Institut für HIV-Forschung auf. Ende 2019 wechselte er nach Bonn.
Streeck gilt als der Wissenschaftler, der in Deutschland die meisten Corona-Infizierten gesehen hat. In Abgrenzung zu den Kollegen vom Robert-Koch-Institut wirbt Streeck dafür, die Politik nur auf Basis gesicherter Fakten zu drastischen Kontaktverboten zu drängen. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat Streeck in einen „Expertenrat“ berufen, der die Diskussion über eine Lockerung der aktuellen Freiheitsbeschränkungen begleiten soll. Das Land NRW finanziert Streecks vielbeachtete Covid-10-Studie im Kreis Heinsberg, der zunächst bundesweit am stärksten vom Corona-Virus betroffen war.
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