Washington. .

Eine Ukrainerin, die mitten in der Krim-Krise olympisches Gold gewinnt und die Medaille mit feuchten Augen ihrem um Unabhängigkeit ringenden Land widmet, ist eine gute Geschichte. Leider hat Ludmilla Pawlenko starke Konkurrenz. Eine Ukrainerin, die als Waisenkind über den großen Teich adoptiert wurde und für die Vereinigten Staaten im gleichen Wettbewerb Silber gewinnt und nebenbei die Herzen der Zuschauer, ist noch ein bisschen besser. Beides hat sich in Sotschi bei den Winter-Paralympics zugetragen, die am Sonntag zu Ende gingen. Die Geschichte von Oksana Masters muss man einfach noch schnell aufschreiben.

Die 24-Jährige ist eine der bekanntesten Sportlerinnen, die das US-Team trotz der politischen Aufwallungen ans Schwarze Meer geschickt hatte. Was sie im Langlauf zeigte, gelang amerikanischen Wintersportlern mit Behinderungen zuletzt 1994. Dabei fährt sie erst seit zwei Jahren Ski. Von außen sah ihre Willensleistung aus wie ei­ne Fingerübung. Entspannt nahm Oksana Masters den Jubel im Zieleinlauf entgegen. Da, wo andere zu­sammenbrechen, weil sie sich verausgabt haben.

Gay Masters fiel ein Stein vom Herzen.

Radioaktive Strahlen

Als Oksana 1989 zur Welt kommt, ist die Atomreaktor-Katastrophe von Tschernobyl drei Jahre alt. Die Spätfolgen der radioaktiven Strahlen, so werden es später die Ärzte rekonstruieren, müssen das Mädchen bereits im Mutterleib geschädigt haben. Oksana kommt in der Kleinstadt Khmelnitsky mit seltsam verkrüppelten und unterschiedlich langen Beinen zur Welt. An ihren Händen sind keine Daumen.

Die Eltern sind überfordert. Sie geben Oksana in ein Waisenheim. Es ist das erste von dreien. In allen soll die Prügelstrafe geherrscht haben. Als Oksana sieben Jahre alt ist, tritt Gay Masters in ihr Leben. Professorin Gay Masters aus Louisville im Bundesstaat Kentucky, der Heimatstadt der Box-Legende Muhammad Ali. Sie adoptiert Oksana. Wissend, dass ihrer Tochter in spe ein lebensverändernder Schritt bevorstehen würde. Um die Schmerzen zu lindern, mussten dem Mädchen oberhalb der Knie beide Beine amputiert werden. „Anders hätten sie das Gewicht meiner Tochter nicht mehr lange tragen können“, erinnert sich die bekannte Sprachtherapeutin. Der Eingriff gelingt. Oksana bekommt Prothesen. Sie gibt ihnen Namen: meine „Lamborghinis“. Und dann rennt sie los.

„Ich lebe doch nur mein Leben“

Mit 13 Jahren führt der Bewegungsdrang sie zum Rudern. Ihr Freund und Trainingspartner Rob Jones, ein Elite-Marine, hatte in Afghanistan beide Beine verloren. Das Duo nennt sich sarkastisch „Team Bad Company“ und ist sich selbst die beste Gesellschaft. Aus Training wird Ernst. Leistungsernst. Bei den Sommerspielen in London 2012 erkämpft sie sich Bronze.

„Ich hasse es, wenn Leute sagen, ich sei tapfer“, sagt Oksana Masters. „Ich bin nicht tapfer. Ich lebe doch nur mein Leben. Warum soll das tapfer sein?“ Darum vielleicht?

Vor dem Welt-Ereignis in der britischen Hauptstadt zog sich die Sportlerin für das renommierte Sport-Magazin „The Body Issue“ des Senders ESPN aus und ließ sich neben nicht behinderten Stars wie dem NBA-Basketballer Tyson Chandler oder der Welt-Fußballerin Amy Wambach nackt fotografieren. Jenen, die über die Bilder die Nase rümpfen, sagt sie: „Es gibt nichts Schöneres für mich als jemanden, der zuversichtlich und glücklich in seiner eigenen Haut ist. Ich hoffe, dass ich anderen Menschen damit helfen konnte.“ Nicht zum letzten Mal. Als sie im Herbst 2012 zum ersten Mal High Heels über ihre dünnen High-Tech-Prothesen zieht, reißt sie die Emotion fort: „Mein Gott, ich liebe diese Schuhe. Ich werde sie auch heute Nacht nicht ausziehen.“

Tat sie natürlich doch. Der Tausch mit den Ski-Schuhen hat sich gelohnt. Und Oksana Masters ist noch lange nicht satt. Im Moment überlegt sie, ob sie in zwei Jahren in Brasilien, bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro, die Herausforderung suchen soll. Dann als Leichtathletin. Sie ist verdammt schnell.