Ramstein. Wenn heutzutage in Deutschland eine Katastrophe passiert, werden die oft schwer traumatisierten Überlebenden auch psychologisch betreut. Doch das war nicht immer so. Erst die Flugtag-Katastrophe von Ramstein, bei der am 28. August 1988 ein brennender Militärjet in die Zuschauermenge raste, machte deutlich, wie wichtig diese Nachsorge ist.

Es war ein junger Patient, der alles ins Rollen brachte. Als der Mann beim Weihnachtseinkauf 1988 in der Fußgängerzone von Kaiserslautern ohne ersichtlichen Grund zusammenbrach und um sich schlug, waren die Ärzte zunächst ratlos. Sie ahnten nicht, dass es an der Flugtag-Katastrophe von Ramstein vier Monate zuvor lag.

Ein Flugzeug, das über Kaiserslautern hinweggeflogen war, hatte bei dem Mann einen Flashback mit Panikattacken und Herzrasen ausgelöst - er wähnte sich wieder in Ramstein, wo ein brennendes Militärflugzeug in die Zuschauermenge gerast war und Dutzende Menschen getötet hatte. Er war von einer panischen Masse niedergetrampelt worden, die ihm das Bein brach.

Als er in der Fußgängerzone um sich geschlagen habe, sei es der Versuch gewesen, sich zu retten, erklärt Trauma-Expertin Sybille Jatzko. Ihr Mann Hartmut Jatzko war damals Chefarzt der psychosomatischen Klinik, in die der junge Patient gebracht wurde. Dem Ehepaar wurde schlagartig klar: Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Menschen hatten in Ramstein ein Trauma erlitten - und sie brauchten dringend Hilfe.

Mehr als 1000 Verletzte

Bei der Flugtagkatastrophe waren weit mehr als 1000 Menschen verletzt worden, 450 von ihnen schwer. Sie wurden in Dutzenden Krankenhäusern behandelt, doch um ihre seelischen Wunden kümmerte sich niemand.

Heute ist es Normalität geworden, dass Menschen nach Katastrophen zu betreuten Schicksalsgemeinschaften zusammenfinden. Doch vor Ramstein habe es Katastrophenseelsorge und Traumaforschung in Deutschland nicht gegeben, sagt Jatzko: "Wenn Ramstein ein Gutes hatte, dann, dass es uns zur Beschäftigung mit dem Thema gezwungen hat."

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Kurz vor dem ersten Jahrestag informierten die Jatzkos über die Medien darüber, dass eine Nachsorgegruppe eingerichtet werden sollte. 80 Menschen kamen zur bundesweit ersten Zusammenkunft dieser Art - Verletzte und Hinterbliebene, die das Unglück hautnah miterlebt hatten, Angehörige der Toten, Feuerwehrleute, Polizisten, Helfer.

Sie fanden endlich das, was sie vergeblich gesucht hatten: Unterstützung, Verständnis dafür, dass sie noch immer unter Flashbacks und anderen Symptomen ihres Traumas litten. Manche fanden dort - ermutigt durch die Schilderungen anderer - erstmals Worte für das, was sie erlebt hatten. Gemeinsam konnten sie nach Bewältigungsstrategien suchen.

Gegen die Gruppe habe es anfangs große Blockaden gegeben, erzählt Jatzko. Ihr Mann sei sogar bedroht worden. "Es war eine brisante und schwierige Situation." Ramstein war ein Politikum - es herrschte Kalter Krieg und die Amerikaner waren die Hausherren vor Ort. Viele Menschen hatten Angst, dass die Zusammenkünfte der Betroffenen und Hinterbliebenen politische Züge annehmen könnten. Es herrschte vor allem Misstrauen, denn niemand wusste, was die Jatzkos vorhatten.

Traumata waren Neuland

Kein Wunder: Im Umgang mit Traumata fehlte in Deutschland damals die Erfahrung. Heute weiß man, dass ein Trauma zu hirnorganischen Veränderungen führt, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. Eine Heilung gibt es nicht - die Betroffenen müssen lernen, mit Flashbacks, Panikattacken, Schlaflosigkeit und anderen Symptomen zu leben.

Der Halt in der Gruppe ist daher umso wichtiger. Bei den Jatzkos meldeten sich noch viele Jahre nach der Katastrophe immer wieder neue Menschen, die mit den Folgen ihrer Erlebnisse in Ramstein nicht zurechtkamen. Die Schicksalsgemeinschaft existiert noch heute; Jatzko und ihr Mann erhielten 2004 für ihr Engagement in der Katastrophennachsorge das Bundesverdienstkreuz.

Die Nachsorgegruppe habe sich stets wie eine große Familie um ihre Mitglieder gekümmert, sagt die Therapeutin. Sie konnte vielen Halt geben, doch sie konnte nicht alle retten. Etwa eine Frau, die in Ramstein ihre neunjährige Tochter verloren und selbst Verbrennungen erlitten hatte.

Ihr Mann starb mit 43 Jahren und ließ sie allein zurück. "Die Frau zog alle drei Monate um. Sie saß auf ihren Kisten und meinte: "Hier riecht es so verbrannt"", erzählt Jatzko. Die Gruppe kaufte für sie ein, damit sie überhaupt etwas aß, doch ihren Lebensmut konnte ihr keiner zurückgeben. Sie starb an einer Lungenfibrose.

Andere Mitglieder jedoch unterstützen inzwischen selbst Menschen, die gerade eine Katastrophe erlebt haben. Betroffene von Ramstein halfen etwa den Hinterbliebenen der Birgenair-Katastrophe 1996 in der Dominikanischen Republik, mit dem Verlust umzugehen.

Sie hätten authentisch über ihre Erlebnisse und Schwierigkeiten berichten können, und das sei eine große Hilfe für die Betroffenen gewesen, berichtet die Trauma-Expertin. Und es sei auch hilfreich für die Überlebenden von Ramstein. "Dadurch sind sie nicht mehr Opfer, sondern Helfer. Das stärkt ihre Ressourcen, das stärkt ihre Kraft." (dpa)