Paris. Der legendäre Michelin-Restaurantführer erscheint am Montag zum 100. Mal. Und wie stets müssen selbst die renommiertesten Köche Blut und Wasser schwitzen. Denn Michelin kennt keine Gnade.





Paris. «Ich hab mich selbst fertiggemacht, ich muss aufhören», sagt Marc Veyrat. Der 58-Jährige gehört zu den französischen Kult-Köchen und hat für seine Restaurants am See Annecy in den französischen Alpen die höchste aller Auszeichnungen erhalten: Drei Michelin-Sterne. Doch die Jagd auf die Sterne drohte ihn zu zermürben. Von einem schweren Skiunfall vor drei Jahren noch angeschlagen, zieht er nun die Notbremse und macht seine Restaurants dicht.

Der Druck in der Champions League der Haute Cuisine wurde zu groß. «Aber ich gebe noch nicht auf. Wenn ich wieder fit bin, komme ich zurück.» Der Mann mit dem breitkrempigen Hut ist der letzte von mehreren Küchenchefs, die vor der strengen Michelin-Bewertung kapitulieren. Nur Restaurants mit üppigem Umsatz könnten es sich auf Dauer leisten, den Kriterien gerecht zu werden, sagen sie.

Zur Pariser Weltausstellung

Am Montag erscheint der rote Michelin-Führer des französischen Reifenherstellers zum 100. Mal. Die erste Ausgabe kam im Jahr 1900 auf den Markt, zur Pariser Weltausstellung. Dass aus dem Heft einmal der beliebteste und gefürchtetste, in jedem Fall aber der wichtigste Restaurantführer der Welt werden sollte, stand damals noch in den Sternen. Denn die Broschüre listete zunächst nur Reifenhändler und Werkstätten auf.

Keine Gnade mit angesehensten Gourmet-Tempeln

«1926 erfanden die Brüder André und Edouard Michelin den ersten Stern», erzählt Unternehmenssprecherin Marie-Bénédicte Chevet. Zunächst wurde die Auszeichnung anhand von persönlichen Eindrücken vergeben, die Autofahrer auf ihren Fahrten quer durch Frankreich sammelten und in die Michelin-Zentrale schickten. Aus dem Flickenteppich empfehlenswerter Gaststätten entwickelte sich schnell ein kritischer Gastroführer: Bis 1933 wurde die Bewertung um den zweiten und dritten Stern erweitert, schon 1930 stellten die Brüder Michelin die ersten professionellen Feinschmecker ein.

Weil in den Kriegsjahren keine Michelin-Führer erschienen, wird erst jetzt der runde Geburtstag gefeiert. Und wie stets müssen selbst die renommiertesten Köche Blut und Wasser schwitzen. Denn Michelin kennt keine Gnade. So wurden in den vergangenen Jahren einige der angesehensten Gourmet-Tempel zurechtgestutzt, wie das Pariser «Grand Véfour» oder das «Tour d'Argent», das 2008 seinen dritten Stern aberkannt bekam. Auch der deutsche Küchenchef Heinz Winkler wurde zurückgestuft.

Den Verdacht, dass einige Restaurants, wie etwa das des 82-jährigen Starkochs Paul Bocuse, bevorzugt behandelt werden, weist Chevet energisch zurück. «Den Ausschlag gibt nur, was auf dem Teller ist», sagt sie. Eines der wichtigsten Kriterien ist die Beständigkeit. «Egal, ob zur Hochsaison, am Mittag oder Abend, das Essen muss immer den höchsten Ansprüchen gerecht werden.» Neben der Frische der Zutaten und dem tadellosen Geschmack zähle auch die Persönlichkeit des Kochs, die in seinen Gerichten zu Ausdruck kommen müsse. «Und weil jeder mal einen schwarzen Tag erwischen kann, werden manche Küchen bis zu 14 mal pro Jahr getestet, bevor das Urteil fällt.»

Drei Sterne für eine Sushi-Bude

Vom Ambiente lassen sich die Feinkostkritiker nicht blenden, worüber etwa das zurückgestufte Pariser «Maxim's» ein betrübliches Lied singen kann. Immerhin birgt die Konzentration auf das Wesentliche auch Chancen für kleine Restaurants. So wurde eine Tokioter Sushi-Stube 2008 mit drei Sternen ausgezeichnet, obwohl der Laden in einem U-Bahnhof liegt und über keine eigenen Toiletten verfügt. «Es ist wenig mehr als eine Imbissbude, aber das Sushi ist außergewöhnlich gut», sagt Chevet.

Das neue Bemühen, die Neutralität und Unbestechlichkeit herauszustreichen, geht auf einen Skandal aus dem Jahr 2005 zurück. Damals wurde im belgischen Michelin ein Lokal gelobt, das noch gar nicht eröffnet hatte. Die Redaktion zog die Konsequenz und stampfte die gesamte Auflage ein, zudem wurde die Arbeitsweise öffentlich gemacht. Mauscheleien seien seitdem weitgehend ausgeschlossen, meint Unternehmenssprecherin Chevet. «Unsere insgesamt 90 Kritiker bekommen pro Jahr eine Region zugewiesen, in die sie frühestens fünf Jahre später wieder in Feinschmeckermission zurückkehren dürfen.»

In 23 Ländern beziehungsweise Städten erscheint der rote Guide Michelin inzwischen. Die erste Tokio-Ausgabe verkaufte sich wie warme Semmeln, 120.000 Stück am ersten Tag. Vom Erfolg beflügelt setzt der einstige Werkstattführer seinen Eroberungszug fort: Demnächst sollen neue Ausgaben in Asien und für Städte in den USA herausgegeben werden. (ap)


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