Hitzacker. Hitzacker ist leergezogen. Bürger fliehen, ihre Fachwerkhäuser sind verlassen. Sandsäcke verstopfen Haustüren, und der Dorfbrunnen steht trocken.

8,17 Meter, und Hitzacker hält. Noch. Hätte das Städtchen seine neue Hochwasserschutzwand nicht, ein erwachsener Mann könnte hier nicht mehr stehen. Aber es ist ja auch kein Mann da: Hitzacker an der Elbe ist eine Geisterstadt. Leergezogen seit Sonntag, 20 Uhr, verwaist, gespenstisch still. Niemand weiß, ob es die Ruhe vor dem Sturm ist oder vielleicht schon die danach, jedenfalls ist sie trügerisch: „Von Entwarnung“, sagt Geerd Wykhoff vom Katastrophenschutzstab, „kann überhaupt keine Rede sein.“

Genug Leute gab es hier oben in Niedersachsen, die haben die Mauer nicht gewollt. Diesen Sockel aus rotem Stein, auf den die Freiwillige Feuerwehr vergangene Woche auf 600 Metern Länge eilig Aluminium aufgestockt hat. „Die bauen uns das vor die Tür“, haben viele gesagt, „und dann kommt kein Hochwasser mehr.“ Doch dann lief schon 2006 die Baugrube für das neue Pumpwerk voll, und diesmal kratzt die Elbe Unterkante Mauersims. „Man hört nur das Plätschern“, sagt der Feuerwehrmann Hans-Joachim Becker auf der sicheren Seite, wo nur hier und da unter Fluttoren kleine Rinnsale lecken. „Ein komisches Gefühl, wenn man weiß, dahinter, über Kopfhöhe, steht das Wasser.“ Und es steht ja gar nicht, es fließt.

8,17 Meter, das ist historischer Höchststand. Bei neun Metern wäre die Elbe in die Stadt gekommen, schon wieder, nach 2002, 2006, 2011. Die letzte „Hochwasserinfo“ des Bürgermeisters am Aushangbrett, schwarz auf rot, stammt vom 7. Juni. Zwei Tage später mussten die Bürger fliehen, ihre jahrhundertealten Fachwerkhäuser sind seither verlassen. Vor den Fenstern blühen Rosen, die niemand mehr bewundert, dahinter stehen Möbel gestapelt: leere Schränke, ausgeräumte Regale, alles auf dem Tisch. Sandsäcke verstopfen ungenutzte Haustüren, aus Kellerfenstern hängen Schläuche, der Dorfbrunnen steht trocken. Im Hafen liegt das Ausflugsschiff mehrere Meter hoch über der leeren Stadt, unter ihm glitzert das Wasser in der Sonne. „Es ist Katastrophenalarm“, sagt Feuerwehrmann Andreas Lenz, „aber man spürt die Katastrophe nicht. Weil alles so friedlich scheint.“

Scheint. Denn seit der Scheitel da ist, er kam in der Nacht zum Dienstag, ist es nicht mehr so sehr der Fluss, der ihnen Angst macht. Es ist das, was er mitbringt. Was er mitgerissen hat auf seinem zerstörerischen Weg durch Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen. Was sich in die Deiche bohren könnte und durch die Alu-Wand. Dicke Baumstämme fischen Feuerwehr und Technisches Hilfswerk aus dem Wasser, eine zweistämmige Eiche haben sie rausgeholt, „ein Riesen-Kaventsmann“, sagt Andreas Lenz, „da ist einiges unterwegs“. Woher das wohl kam, wohin es gehört? Lebende Rehkitze haben sie auch gerettet und beinahe eine Biberfamilie trockengelegt, deren Holzhaus dann aber am Ufer angebunden: „Die Biber wohnen jetzt hier“, so kam es über Funk. Ein Jäger-Hochsitz wurde gelandet, der Wassertank einer Viehweide, und eben zersägt die Wasserwacht des Roten Kreuzes einen Baum, den wohl vier Männer gemeinsam umarmen könnten.

„Wenn so ein Stamm in unsere schöne neue Wand rauscht“, sagt Hans-Joachim Becker, „war alle Mühe vergebens.“ Wenn das Wasser kommt, „kommt es mit Macht“. Dann, so Kollege Lenz, „stehen wir hier nicht mehr, sondern keulen“.

Dabei stehen sie gar nicht, sie überprüfen 24 Stunden den Deich, fahren Patrouille mit dem Boot und angeln Treibgut. Wie Jens Stübbecke, der derzeit nicht kochen kann in seiner Gaststätte auf der Stadtinsel, für wen auch: Er ist ausgezogen, nun schützt er seine Stadt. Fährt übern See mit der „Florian 11“, tatsächlich hat jemand was vom „1000-Seen-Land“ gesagt. Denn das hier ist kein Fluss mehr, normalerweise 150 Meter breit, das ist eine Wasserfläche von mehr als einem Kilometer von Ufer zu Ufer. „Drüben“, wo 1990 noch der Grenzzaun stand, liegen jetzt Sandsäcke aufgetürmt.

Schleswig-Holsteins Lauenburgläuft unter Wasser

8,17 Meter sind mehr denn je, aber weniger, als die Prognosen zwischenzeitlich androhten. Sie glauben ihnen nicht mehr in Hitzacker, sie messen lieber selbst. Und ahnen: „Was dem einen sein’ Not, ist dem anderen sein Brot“, wie sie in schönstem Plattdeutsch sagen. Soll andeuten, es könnte Hitzackers „Glück“ sein, dass andere Deiche flussaufwärts nicht hielten, dass viel Wasser abfloss und Dörfer überspülte, die keine Schutzwand hatten. „Jeder Zentimeter, der hier nicht ankommt“, sagt einer, „ist angenehmer.“ Und man sehe, ergänzt Hans-Joachim Becker, dem die Arbeit in der Sonne die Arme pellt, „was Hochwasserschutz bewirken kann“. Flussabwärts, im schleswig-holsteinischen Lauenburg, läuft die Stadt seit Tagen voll.

Annika Fischer