Washington/Cleveland. .

Bei einem Nachbarn setzte Amanda den Notruf ab, an den man sich in der Polizeleitstelle der Autostadt Cleveland am Lake Erie noch lange erinnern wird. „Helfen Sie mir, ich bin Amanda Berry... ich bin entführt worden und werde seit zehn Jahren vermisst... ich bin hier... ich bin jetzt frei... ich brauche Sie jetzt, weil er zurückkommt!“

Die Sondereinsatzkräfte fackelten nicht lange. Als sie nach wenigen Minuten das Haus Nr. 2207 stürmten, fanden sie Georgina DeJesus und Michelle Knight, die beiden anderen vermissten Frauen. Allen drei Opfern geht es körperlich vergleichsweise gut. Dr. Gerald Maloney vom Metro Health Medical Center hat die Entführten un­tersucht. Über das Ausmaß der seelischen Verheerungen wollte der Mediziner nicht spekulieren.

Der Fall ruft Erinnerungen wach an die Entführung von Natascha Kampusch. Die Österreicherin wurde acht Jahre von ihrem Entführer Wolfgang Priklopil festgehalten, bevor sie sich im Alter von 18 Jahren 2006 befreien konnte.

In Cleveland fängt die Arbeit der Ermittler jetzt erst richtig an. Der zuständige FBI-Fahnder Steven Anthony verweigerte gestern bei ei­ner Pressekonferenz in Cle­veland sämtliche Spekulationen über Entstehung und Werdegang der Gefangenschaft. Man werde „noch Wochen benötigen, um die Ereignisse rekonstruieren zu können“. Das FBI räumte aber ein, Castro sei 2004 „ausführlich befragt“ worden, nachdem er ein Kind in einem Schulbus zurückgelassen habe. Die drei Frauen seien in dem Haus nicht bemerkt worden.

Was man heute weiß: Amanda Berry identifizierte Ariel Castro als ihren Peiniger. Wenig später wurde dieser an einem Schnellrestaurant festgenommen. Die Medien stellen viele Fragen: Wie konnte das Martyrium der Frauen so lange unbemerkt bleiben? Haben Nachbarn nie ein Kind bemerkt? Hatten die Frauen das Stockholm-Syndrom? Eine bei Entführungen immer wieder festgestellte Erscheinung, bei der die Opfer sich mit den Tätern identifizieren. Die Vernehmungen sollen in den nächsten Wochen Klarheit bringen.

Castros Nachbar Charles Ramsey sagte Dutzenden von Fernsehreportern immer wieder den gleichen Satz: „Ich hatte nie auch nur die leiseste Ahnung.“ Er beschreibt den 52-Jährigen als unauffälligen, wortkargen Zeitgenossen. „Wir haben zusammen gegrillt und Bier getrunken. Dass Frauen im Haus waren, habe ich nicht gewusst.“

Dabei waren die Vermissten im Bewusstsein vieler Menschen in der meist von hispanisch-stämmigen Einwanderern bewohnten Gegend. Jennifer Picart, die mit Amanda Berry bis zuletzt bei Burger King gearbeitet hatte, sagte dem TV-Sender WEWS unter Tränen, dass „viele Freunde über Jahre Kerzen aufgestellt und gebetet haben“. Zuletzt hatte der Fall im Januar Schlagzeilen ausgelöst. Robert Wolford, ein Häftling, war zu viereinhalb weiteren Jahren verurteilt worden. Er hatte der Polizei irreführende Hinweise auf den Ort gegeben, an dem angeblich Amanda Berrys Leiche vergraben worden sein soll.

Nicht das einzige groteske Detail. Im Juni 2004 erschien in einer Stadtteilzeitung von Cleveland ei­ne Geschichte über die vermissten Frauen. Und die Angst, die seit ih­rem Verschwinden in der Nachbarschaft herrscht. Der Verfasser schildert darin detailliert und einfühlsam, wie sehr die Angehörigen leiden. Er hat eigens die Mutter von Georgina DeJesus interviewt. „Jeder hier fühlt sich mit der Familie verbunden.“ Der Name des Autors: Ariel „Anthony“ Castro, der Sohn des Mannes, der drei Frauen ein Jahrzehnt ihres Lebens gestohlen hat. Die Polizei sagt, er wusste nicht, was sein Vater getan hat.