Cleveland. .

Als Jaycee Lee Dugard 2009 unversehrt in Kalifornien befreit wurde, schien der Höhepunkt in der Geschichte monströser amerikanischer Kriminalfälle erreicht. Als 11-jähriger Blondschopf wurde sie aus dem Leben gerissen. Es kehrte eine 29-Jährige zurück, die in 18-jähriger Gefangenschaft zwei Kinder gebar. Der Kidnapper war der Vater. Was sich jetzt in der Seymour Street 2207 in Cleveland ereignete, stellt den Fall Dugard in den Schatten. Drei junge Frauen, die vor neun, zehn und rund elf Jahren im gleichen Stadtteil der Metropole im US-Bundesstaat Ohio spurlos verschwunden sind und seither offenbar in einem unscheinbaren Wohnhaus festgehalten wurden, entkamen ihren Peinigern.

Amanda Berry wurde zum letzten Mal einen Tag vor ihrem 17. Geburtstag in einer Burger King-Filiale in der Nähe der Loraine Avenue gesehen. Das war im April 2003. Ihre Mutter Louwana suchte jahrelang nach ihrem Kind. Sie starb 2006 an gebrochenem Herzen. Georgina DeJesus war 14, als sie im April 2004 nicht von der Wilbur Wright Mittelschule nach Hause kam. Ihre Mutter Nancy war bis zuletzt davon überzeugt, dass ihre Tochter Menschenhändlern in die Fänge geraten ist. Von Michelle Knight fehlte seit August 2002 jede Spur. Damals war sie 20. Ihre Verwandten glaubten, sie sei weggelaufen. Alles falsch.

Alle drei waren keine zwei Meilen entfernt von den Orten, wo sie zuletzt gesehen wurden. Eingekerkert in einem kleinen Einfamilienhaus, das Nachbarn im Nachhinein nur deshalb auffiel, weil der Besitzer, Ariel Castro, es immer durch den Hintereingang betrat und zur Straße hin niemals Licht zu sehen war. Der 52-jährige ehemalige Schulbusfahrer und seine Brüder Pedro (54) und O‘Neil (50) sitzen in Untersuchungshaft. Sie werden verdächtigt, die jungen Frauen entführt und wie Sklaven gehalten zu haben. Amanda Berry, heute 27, hat in der Geiselhaft ein Kind geboren. Das Mädchen soll sechs Jahre alt sein.

Wäre Charles Ramsey nicht aufmerksam gewesen, die Tortur wäre womöglich noch immer nicht vorbei. Der Afro-Amerikaner bemerkte, wie am Montagnachmittag eine Frauenhand durch ein Loch in der Tür von Nachbar Castro ragte. Dazu „Hol mich hier raus“-Hilferufe. Ramsey half die Tür einzutreten. Eine junge Frau krabbelte heraus, Todesangst im Gesicht, auf dem Arm ein kleines Mädchen. Bei einem Nachbarn gegenüber dann der Notruf, an den man sich in der Polizei-Leitstelle der Auto-Stadt am Lake Erie noch lange erinnern wird. „Helfen Sie mir, ich bin Amanda Berry...ich bin entführt worden und werde seit zehn Jahren vermisst...ich bin hier...ich bin jetzt frei...ich brauche Sie jetzt, weil er zurückkommt!“

Die Sondereinsatzkräfte fackelten nicht lange. Als sie nach wenigen Minuten das Haus Nr. 2207 stürmten, fanden sie Georgina DeJesus und Michelle Knight, die beiden anderen vermissten Frauen. Allen drei Opfern geht es körperlich vergleichsweise gut. Dr. Gerald Maloney vom Metro Health Medical Center hat die Entführten untersucht. Über das Ausmaß der seelischen Verheerungen wollte der Mediziner nicht spekulieren.

In Cleveland fängt die Arbeit der Ermittler jetzt an. Man werde „noch Wochen benötigen, um die Ereignisse rekonstruieren zu können“, sagte der zuständige FBI-Fahnder Steven Anthony gestern. Was man weiß: Amanda Berry identifizierte Ariel Castro als ihren Peiniger. Wenig später wurde er festgenommen. Und der ist kein Unbekannter. Die Polizei hatte Castro 2004 vernommen, nachdem er ein Kind in einem Schulbus zurückgelassen habe. Die drei Frauen seien in dem Haus nicht bemerkt worden.

Unauffällig und wortkarg

Castros Nachbar Charles Ramsey beschreibt den 52-Jährigen als unauffälligen, wortkargen Zeitgenossen. „Wir haben zusammen gegrillt und Bier getrunken. Dass Frauen im Haus waren, habe ich nicht gewusst.“ Dabei waren die Vermissten im Bewusstsein vieler Menschen in der meist von hispanisch-stämmigen Einwanderern bewohnten Gegend. Zuletzt hatte der Fall im Januar Schlagzeilen ausgelöst. Robert Wolford, ein Häftling, war zu viereinhalb weiteren Jahren verurteilt worden. Er hatte der Polizei irreführende Hinweise auf den Ort gegeben, an dem angeblich Amanda Berrys Leiche vergraben worden sein soll.

Nicht das einzige groteske Detail. Im Juni 2004 erschien in einer Stadtteilzeitung von Cleveland eine Geschichte über die vermissten Frauen. Und die Angst, die seit ihrem Verschwinden in der Nachbarschaft herrscht. Der Verfasser schildert darin einfühlsam, wie sehr die Angehörigen leiden. Der Name des Autors: Ariel „Anthony“ Castro, der Sohn des Mannes, der drei Frauen ein Jahrzehnt ihres Lebens gestohlen hat. Die Polizei sagt, er wusste nicht, was sein Vater getan hat.