London.. Mitte des 18. Jahrhunderts war der Höhe-, zugleich aber auch der Tiefpunkt des Gins in Großbritannien: Es wurden so viele Menschen abhängig, dass der Trunk einen extrem schlechten Ruf genoss. Allmählich scheint sich dies wieder zu ändern.
Sie sind ein historisches Paar, das sich lange gar nicht gut vertrug: Gin und London gehören zusammen, auch wenn ihr Verhältnis kompliziert ist. Zurzeit erlebt das Duo einen Höhenflug: Gin ist plötzlich schick und Londons größte und älteste Destillerie will seine Manufaktur jetzt für Besucher öffnen. Sie erwartet eine ordentliche Prise Wacholderduft und Stadtgeschichte.
Von Queen Mom weiß man, dass sie ihre Repräsentationspflichten gern mit einem Drink aus Gin und dem Vermouth-ähnlichen Aperitif Dubonnet auflockerte. Auch James Bond setzt auf die belebende Wirkung des Getränks: Immerhin 16 Gin-Cocktails mischt er sich in seiner literarischen Karriere. Im Film verzichtet er zugunsten cooler Martinis: Gin galt eben lange bestenfalls als Oma-Schmeichler, schlimmstenfalls als Schmuddeltrunk. Londons „Hipstern“, mit ihrer Liebe zu den verflossenen Traditionen der Fifties und Sixties, ist es zu verdanken, dass das Getränk eine wahre „Ginaissance“ erlebt: Pubs richten in Hinterzimmern „Boutique-Destillerien“ ein, Barmixer entdecken das Enfant Terrible der Londoner Slums neu für sich.
24 Stunden baden die botanischen Gewächse in ihrer Marinade
Die Neugier spürt man auch bei Beefeater, der letzten verbliebenen Groß-Brennerei, die bislang in einer ehemaligen Gurkenfabrik südlich der Themse ein Schattendasein geführt hat. Noch in diesem Jahr will Meister-Brenner Desmond Payne die Manufaktur zu einer 600 Qua-dratmeter großen Besucherattraktion ausbauen und – wie Guinness in Dublin oder Jack Daniel’s in Tennessee – Gäste in die Kunst des Hochprozentigen einweihen.
Über eine Glasempore dürfen die Besucher sich die Produktion dann erstmals anschauen. Statt großer Show will Beefeater allerdings weiter einfach nur seine authentische Arbeit präsentieren. Die beginnt in großen Kupferkesseln voll Reinalkohol, dem ein Cocktail aus Wacholder, Kräutern und Zitrusschalen beigegeben wird. 24 Stunden baden die botanischen Gewächse in ihrer Marinade, dann werden die Kessel erhitzt. Über lange Kupferhälse verdampft ein Teil des Alkohols. Das Rest-Aroma fließt sieben Stunden lang in Glasfässer ab.
Ab wann die perfekte Geschmacksbalance für den Gin erreicht ist, entscheidet Desmond Payne nach der Nase: „Man muss den Moment abpassen, in dem der Zitrusduft sich verflüchtigt hat.“ 30 Millionen Flaschen füllt Beefeater pro Jahr in London ab. Es ist ein einfaches Prozedere, für das der Betrieb nur fünf Mitarbeiter braucht. Das Erfolgsgeheimnis aber liegt in der Perfektion des Gründer-Rezeptes von 1863.
Ein Stück Londoner Industriegeschichte
Desmond Payne kann man also gar nichts vormachen: „Dr. London Gin“ schmeckt sogar den Unterschied des Wacholdertranks heraus, der Montag oder Mittwoch abgefüllt wird. „Montags schmeckt man die Kräuter stärker, weil sie über das ganze Wochenende im Alkohol lagen“, verrät er. An einer Aromatheke erfahren Gäste auch alles über die Zutaten, die zerstoßenen Wacholderbeeren aus Italien, die langen Spiralen aus Zitronenschale, getrocknet über Wäscheleinen, Iris-Wurzeln und – neuerdings – kostbare Teeblätter. Das Mischungsverhältnis bleibt freilich Desmonds Geheimnis.
Der Blick über seine Schulter lohnt sich trotzdem, weil die Gin-Destillerie einer der wenigen Orte im Zentrum der Finanzmetropole ist, an dem überhaupt noch ein Produkt aus natürlichen Zutaten und von Hand hergestellt wird. Die Beefeater-Tour führt somit auch durchs letzte Stückchen Londoner Industriegeschichte. Die schwierigen Anfänge sollen dabei übrigens nicht verschwiegen werden.
Gegen den Gin-Wahn im 18. Jahrhundert ist Komasaufen harmlos
Der Gin-Wahn, der London Mitte des 18. Jahrhunderts fest im Griff hatte, lässt modernes Komasaufen nämlich schon fast harmlos erscheinen. 53 Liter pro Bürger und Jahr sind in den Armen-Slums zu den traurigen Hochzeiten geflossen. Weil erstmals auch Frauen massenweise dem Billig-Gesöff verfielen, gilt es seitdem als „Muttis Ruin“. Jahrzehnte kämpfte die Verwaltung gegen die Gin-Exzesse an, erhöhte die Steuern auf den Ausschank, plante schließlich ein Verbot, was die Londoner mit Straßenschlachten und wüsten Drohungen quittierten („No Gin, no King!“). 40 Jahre sorgte das Wacholder-Destillat für einen Haufen sozialer Probleme, die erst verschwanden, als die Regenten mit Bier in Pubs eine nicht ganz so tödliche Billig-Konkurrenz zum Gin einführten.
„Amerikaner haben nie aufgehört, Gin zu trinken“, sagt Desmond Payne. „Aber in Großbritannien hat sich das Image erst in den letzten zwei Jahren verbessert.“ Solange das Getränk nicht so sehr in Mode kommt wie 1750, kann er sich über diesen Trend freuen.