Chicago. Drei Kinder hatte Shirley Chambers bereits bei Schießereien verfeindeter Straßengangs in ihrer Heimatstadt Chicago verloren. Jetzt wurde auch ihr Sohn Scooby erschossen in seinem Auto aufgefunden – in der Stadt, in der ein Gang-Mord auf offener Straße nur noch ein Achselzucken auslöst. 506 Tote zählte man allein im vergangenen Jahr.

Mordgeschichten aus Chicago lösen in Amerika fast nur noch Achselzucken aus. Nahezu täglich melden die Polizeireporter der „Chicago Tribune“ tödliche Schießereien im Milieu der 650 aktenkundig gewordenen Straßengangs. Mit 506 Opfern, darunter 107 Kindern, die von Querschlägern getroffen wurden, hat die Heimatstadt von Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr einen neuen traurigen Rekord aufgestellt. Es kamen dabei 16 Prozent mehr Menschen zu Tode als im Jahr zuvor – und deutlich mehr als in New York.

Bereits in der Neujahrsnacht ging das Töten, das sich fast ausnahmslos in den meist von Schwarzen und Latinos bewohnten Stadtvierteln im Süden und Westen der glitzernden Banken-Paläste der Innenstadt abspielt, mit den ersten drei Mordopfern dieses Jahres weiter. Bürgermeister Rahm Emanuel, einst Obamas Büro-Chef im Weißen Haus, und Polizeichef Garry McCarthy, beklagen nach jeder Tragödie die epidemisch zirkulierenden illegalen Schusswaffen in der Stadt am Michigan-See und versprechen geeignete Gegenmaßnahmen.

Der Abwärtsspirale entfliehen

Eine Mutter aus dem sozialen Brennpunkt Cabrini-Green kann seit diesem Wochenende endgültig nicht mehr an Besserung glauben. Denn die Gewalt hat ihr alles genommen. Im Dezember saß Ronny Chambers noch in der Fernsehshow von Ricki Lake auf dem Sofa und gab – für Chicagoer Verhältnisse – ein ermutigendes Beispiel ab. Der 34-jährige Schwarze mit den Rastalocken, den Freunde nur „Scooby“ riefen, berichtete dem Studio-Publikum nach 29 Festnahmen und vier Verurteilungen, zuletzt wegen Diebstahls, von seinen allmählich erfolgreichen Versuchen, der Abwärtsspirale zu entfliehen. Einer Spirale, in der in Amerikas drittgrößter Metropole Tausende schwarze, junge Männer stecken: Straßengangs, Drogen, Kriminalität, Lebensgefahr.

Auch interessant

Chambers’ Glaubwürdigkeit speiste sich aus einer seltenen familiären Tragik. Seine Schwester Latoya war fünfzehn, als sie erschossen wurde. Ihr damaliger Freund hatte sich auf der Straße mit einem 13-jährigen Kumpel über eine Nichtigkeit gestritten. Seine Brüder Carlos und Jerome waren achtzehn und dreiundzwanzig, als sie ebenfalls zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Carlos starb auf dem Bürgersteig. Jerome wurde laut Polizeibericht an einem Münzfernsprecher stehend erschossen.

Drei tote Kinder binnen fünf Jahren

Drei tote Kinder binnen fünf Jahren – für Shirley Chambers ein Albtraum. „Hoffentlich nehmen sie mir nicht jetzt auch noch Scooby“, hatte sie nach dem letzten Mord der Zeitung „Tribune“ gesagt. Am Samstag wurde Ronny Chambers an der South Mozart Street in seinem Auto tot aufgefunden. Kopfschuss. Von den Tätern gibt es noch keine Spur.

Chambers ist einer von sieben Schusswaffen-Toten, die Chicago allein an diesem Wochenende zu beklagen hatte.