München. Er soll einen Staatsanwalt aus “Hass an der Justiz“ getötet haben. Doch der Prozess gegen den Dachauer Todesschützen begann ohne den Angeklagten. Der schwer kranke, beinamputierte Mann ist nicht verhandlungsfähig. Das Landgericht München will den Fall trotzdem verhandeln.
Neben der Richterbank steht ein Bett mit grünem Spannbetttuch für den Angeklagten. Doch zum Prozessauftakt am Montag bleibt es leer - und aller Voraussicht nach wird der schwer kranke, beinamputierte Dachauer Todesschütze dort auch in den kommenden Tage nicht liegen. Das Landgericht München will das Verfahren gegen ihn dennoch fortsetzen - in Abwesenheit des Angeklagten.
Schon vor der Eröffnung des Prozesses gegen Rudolf U., der Anfang des Jahres einen jungen Staatsanwalt im Dachauer Amtsgericht erschossen hatte, brodelt die Gerüchteküche. Und nur kurze Zeit später bestätigt der Vorsitzende Richter Martin Rieder die Vermutungen: U. wird vor Gericht nicht erscheinen. Der Mann, dem vor gut zwei Wochen sein zweites Bein amputiert worden war, musste am Montag erneut operiert werden. An seiner Amputationswunde hatte sich ein eitriger Abszess gebildet.
Gericht will Prozess auch ohne Angeklagten fortsetzen
Da es wegen der schlechten gesundheitlichen Verfassung des 55-jährigen Angeklagten schon zur Verschiebung des Prozesses gekommen war, will die Strafkammer nun offenbar keine weitere Zeit verlieren und die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten fortführen. Seine derzeitige Verhandlungsunfähigkeit habe U. durch das Verweigern der medizinischen Behandlung "bedingt vorsätzlich" herbeigeführt, begründet der Richter seine Entscheidung. Das Gericht rechnet auch damit, dass U. sein Verhalten nicht ändert.
Der diabeteskranke Angeklagte ernährt sich laut dem medizinischen Gutachter Malte Ludwig derzeit nur von Milch, Schokolade und Chips – eine "normale" Ernährung habe er bislang ebenso abgelehnt wie eine adäquate medizinische Behandlung. Dass der Angeklagte sowohl Medikamente wie auch das Wechseln der Verbände und der Bettwäsche im Gefängnis, wo er mit einer offenen Amputationswunde im Bett gelegen sei, verweigert habe, habe die Infektionsgefahr erhöht. Bereits die nötig gewordene Amputation hatte U. zunächst verweigert, weil er nach eigener Aussage sterben wollte - und ihr schließlich doch, so der Vorwurf seines Verteidigers, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zugestimmt.
Mutmaßlicher Todesschütze will aus "Hass auf die Justiz" gehandelt haben
Die Fortsetzung des Prozesses ohne den Angeklagten ist ungewöhnlich, die Strafprozessordnung sieht aber derartige Ausnahmeregelungen vor. Schließlich wurde der Angeklagte bereits knapp zwei Wochen vor Beginn der Verhandlung in der Justizvollzugsanstalt angehört und hat dabei, zumindest aus Sicht der Staatsanwaltschaft, "wesentliche Teile der Tat eingeräumt". Der Angeklagte habe erklärt, den Staatsanwalt töten gewollt zu haben und dies mit seinem "Hass auf die Justiz" begründet, sagt Sprecher Thomas Steinkraus-Koch.
Verteidiger Maximilian Kaiser erklärt, der Prozess in Dachau habe "das Fass für ihn zum Überlaufen gebracht". Der wegen nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge angeklagte U., der bereits mehrfach vor Gericht stand, hatte im Januar im Dachauer Amtsgericht bei der Urteilsverkündung um sich geschossen und dabei den 31 Jahre alten Staatsanwalt Tilman T. tödlich getroffen.
Gutachter hält den Angeklagten bald wieder für verhandlungsfähig
Laut Gutachter Ludwig ist U. nur für kurze Zeit verhandlungsunfähig und könnte nach seiner Operation unter Umständen bereits am Mittwoch und damit am, nach bisheriger Planung, dritten Verhandlungstag am Prozess teilnehmen - trotz der Amputation, der neuerlichen Operation und eines Gewichtsverlusts von rund 80 Kilogramm infolge der Mangelernährung. Ludwig. U. sei zwar "etwas verlangsamt", aber "fieberfrei und voll kommunikationsfähig" sowie "örtlich und zeitlich voll orientiert".
Gegen den Beschluss des Gerichts, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, legte Verteidiger Kaiser allerdings sofortige Beschwerde ein. Nun liegt es am Oberlandesgericht, das über Kaisers Antrag entscheiden muss, wann der Prozess fortgesetzt werden kann - und ob die Opfer und Hinterbliebenen weitere Verzögerungen in einem langwierigen Verfahren hinnehmen müssen. (dapd)