Essen. „Irre! Wir behandeln die Falschen“, hieß der Titel, mit dem Psychiater Manfred Lütz wochenlang die Bestsellerlisten anführte. Nun legt er ein neues Buch vor, über künstliche Welten, wie die Medien- und Finanzwelt, in denen wir uns selbst verlieren. Ein Gespräch.

Er ist Psychiater, Psychotherapeut und Theologe. Als Autor führte Manfred Lütz mit seinem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“ 2009 wochenlang die Bestsellerlisten an. Jetzt hat der Chefarzt des Kölner Alexianer-Krankenhauses, den man auch auf der Kabarett-Bühne erleben kann, ein neues Buch vorgelegt: „Bluff! Die Fälschung der Welt“. Lütz versteht es als Denkanstoß. Viele Menschen lebten heute in Scheinwelten – wie die Medien- oder die Finanzwelt –, seien zu wissenschaftsgläubig oder meinten, mit Esoterik zu sich zu finden. Ein Gespräch mit dem 58-jährigen Mediziner über wahre und falsche Welten.

Warum liegt Ihnen dieses Buch so am Herzen?

Manfred Lütz: Wir leben heute in künstlichen Welten – der Medienwelt, der Wissenschaftswelt, der Psychowelt, der Finanzwelt. Das will ich alles nicht verteufeln. Man kann auch nicht aus allem aussteigen. Ich sage auch nicht, das ist böse und gefährlich. Wir können ohne Wissenschaft, ohne Medien nicht leben. Aber diese Kunstwelten werden dann gefährlich, wenn wir sie für die eigentliche Wirklichkeit halten. Man muss aufpassen, dass man das eigene, das reale Leben, bei alldem nicht verpasst. Große Wissenschaftler sind übrigens nicht wissenschaftsgläubig – wie viele Leute. Die gucken über den eigenen Tellerrand, beschäftigen sich nicht nur mit Wissenschaft, von der viele meinen, sie alleine könne uns die Welt erklären.

Sie betonen, dass Sie nicht zu denen gehören, die sagen: Früher war alles besser.

Lütz: Genau. Das Buch ist ein Aufruf dazu, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wieder selbst zu denken, selbst zu fühlen und den eigenen Erfahrungen zu vertrauen.

Was verstehen Sie unter Kunstwelten?

Lütz: Es gibt Menschen, die sozusagen in der Fernsehserie „Lindenstraße“ leben. Für die ist die „Lindenstraße“ die Realität. Und wenn in der „Lindenstraße“ jemand im Sterben liegt, dann sind die tief erschüttert. Aber die Nachbarin, die wirklich im Sterben liegt, die wirkt auf sie fast irreal. Noch ein Beispiel: Facebook. Wenn man meint, Freunde bei Facebook seien wirkliche Freunde und mit denen eine intime Vertrauensbeziehung aufbaut, dann ruiniert man sich selbst. Diese Informationen werden alle weitergegeben. Man ist wie ein offenes Buch. Und den Pranger, an dem ein Mensch im Mittelalter auf dem Marktplatz mal zwei Stunden der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, den erlebt man im Internet für alle Ewigkeit.

Sie halten auch mit Ihrer Kritik an der eigenen Zunft nicht hinter dem Berg.

Lütz: Es gibt Leute, die haben beim heutigen Psychoboom die Vorstellung, eine Psychotherapie sei der Weg zum Glück. Die Psychowelt ist aber bloß eine mehr oder weniger nützliche Kunstwelt. Wir können als Therapeuten nicht das Glück produzieren. Im besten Fall können wir eine belastende psychische Störung heilen. Einen Waschzwang etwa, der einem wirklich das Leben vermiesen kann. Mich hat einmal eine Patientin angerufen und gesagt: Ich möchte durch eine Psychotherapie bei Ihnen ganz werden. Das ist ein utopisches Projekt! Die sah einen Guru in mir. Die suchte bei mir etwas, was ich ihr gar nicht geben kann.

Sie sagen, ein altes Mütterchen aus der Eifel sei oft ein besserer Lebensberater als ein junger Psychotherapeut.

Lütz: Ja! Der hat das Abi mit einer Note 1 gemacht, der hat dann dauernd Bücher gelesen und sitzt dann jahrelang in Zimmern mit gestörten Menschen. Da hat ein altes Mütterchen mehr Lebenserfahrung. Sie ist für Lebenskrisen die viel bessere Ansprechpartnerin.

"Casting-Shows leben von dem Gedanken: Ich bin im Fernsehen, also bin ich."

Macht man den Fernseher an, denkt man bei vielen Kanälen, das Leben sei eine einzige Casting-Show.

Lütz: Casting-Shows leben von dem Gedanken: Ich bin im Fernsehen, also bin ich. Und da gibt es Massen von jungen Menschen – und das ist ganz tragisch – die glauben, sie müssten sich solchen Shows stellen. Da sitzen dann abgedrehte Jurys, die den Eindruck vermitteln, sie seien jetzt das Jüngste Gericht. Leute, die sich inszenieren nach dem Motto: Gleich werden sie wissen, ob sie in den Himmel des Glücks oder in die völlige Verzweiflung stürzen. Dies halte ich gerade für junge Leute für gefährlich.

Sie sind kein Freund von Dieter Bohlen.

Lütz: Das Problem an Dieter Bohlen ist, dass er im Grunde die soziale Atmosphäre auf unseren Schulhöfen kaputt macht. Die Art, wie er mit Menschen umgeht, wird zum Vorbild für junge Leute. Die denken dann, auch sie müssten so menschenverachtend mit anderen umspringen wie der Dieter.

Sie wollen mit Ihrem Buch Menschen ermuntern, über all dies nachzudenken.

Lütz: Ja. Wenn man das Datum seines Todes kennen würde, würde man dann seinen letzten Tag vor dem Fernseher verbringen? Oder würde man lieber das Gespräch mit der Familie, mit guten Freunden suchen? Würde einen der Gesang eines Vogels nicht viel mehr berühren als jede TV-Talk-Runde? Man sollte sich immer klar machen, dass jeder Tag, der vergeht, ein Tag weniger ist im Leben. Deshalb sollte man sich nicht in künstlichen Welten verlaufen und sein Leben dort verplempern. Das Buch soll Menschen ermöglichen, zu erkennen, dass wir aus den künstlichen Welten wenigstens zeitweise aussteigen können.

Die Buchläden sind voll mit Ratgebern. Brauchen wir heute so viel Anleitung?

Lütz: Viele denken heute, wenn man nicht alle möglichen Ratgeber gelesen hat, ist man nicht mehr kompetent für sein Leben. So ein Quatsch! Man nehme nur die vielen Ratschläge zur Kindererziehung, die zur allgemeinen Verunsicherung führen. Natürlich kann man mal einen Ratgeber lesen und sich ein paar gute Tipps holen. Aber souverän! Man darf nicht denken, der Autor ist der Tollste und ich muss jetzt unbedingt tun, was der empfiehlt. Macht man bloß noch voll und ganz das, was einem ein anderer vorgibt, lässt man sich steuern und ist nicht mehr man selbst.

Sie sagen, Sie würden niemanden einstellen, der sich vorher von einem Coach hat beraten lassen.

Lütz: Das ist doch reif fürs Kabarett: Ein Coach schult einen Bewerber, damit der ein bestimmtes, künstliches Verhalten an den Tag legt. Die Personalchefs werden von den gleichen Leuten ausgebildet, dann auf dieses Verhalten zu achten. Hat man schließlich jemanden vor sich, der perfekt angezogen ist, der nur das sagt, was man erwartet, dann hat man einem Schauspiel beigewohnt, aber keinen Menschen kennengelernt.

Wie kann man aus unseren Kunstwelten aussteigen?

Lütz: Man sollte sich hierfür Zeiten gönnen, wenn sie auch nur kurz sind. Mal eine halbe Stunde durch den Wald gehen, das was man früher Muße nannte. Etwas ohne einen Zweck tun, auch nicht aus gesundheitlichen Gründen (lacht). Man soll die unwiederholbare Zeit genießen, riechen, spüren, dass man existiert. Wir verpassen unser wirkliches Leben, wenn wir nur noch in künstlichen Welten leben. Das Buch soll dazu animieren, sich die Frage zu stellen: Wie lebe ich wirklich? Wo investiere ich meine Zeit? Damit man sein reales Leben nicht versäumt und hinterher auf dem Grabstein steht: Er lebte still und unscheinbar. Er starb, weil es so üblich war.

  • Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt. Droemer, 190 Seiten, 16,99 Euro, ab 17. September