Paris. . Drei Briten irakischer Abstammung und ein zufällig vorbeifahrender Radfahrer wurden in den französischen Alpen ermordet. Ein Mädchen überlebte wie durch ein Wunder. Sie schwebt immer noch in Lebensgefahr.

Den Gendarmen aus Annecy bietet sich am Tatort ein grauenhaftes Bild. Eines, das selbst abgebrühte Ermittler tief berührt. Auf der Straße hoch in den französischen Alpen stehen sie an diesem Mittwochnachmittag vor dem mit Schüssen durchsiebten BMW und entdecken darin drei Tote – allesamt britische Urlauber: ein Familienvater mit dem Kopf über dem Lenkrad, seine Frau und die Großmutter auf dem Rücksitz. Nicht weit vom Auto entfernt finden sie die blutüberströmte achtjährige Tochter, die röchelnd mit dem Tod ringt. Und dann den vierten Toten: einen Franzose aus dem benachbarten Ort Ugine, der hier offenbar zufällig auf dem Rad unterwegs war.

Acht Stunden unter Leichen

Weil die Polizisten keinerlei Spuren vernichten wollen, lassen sie das Auto auf ausdrückliche Anweisung von oben unangetastet. Und zwar so lange, bis der Erkennungsdienst aus dem fernen Paris in dem Alpendorf Chevaline (Département Haute-Savoie) eintrifft. Doch das wird mindestens noch acht Stunden dauern. Als die Spezialisten endlich gegen Mitternacht die Türen öffnen, machen sie eine unfassbare, ja herzzerreißende Entdeckung. Unter der getöteten Mutter kauert das vierjährige Töchterchen: zum Glück völlig unverletzt, aber in Schockstarre verfallen.

Unglaublich: Acht geschlagene Stunden hat es unter den getöteten Frauen gelegen. Selbst die Wärmebildkamera des Gendarmerie-Hubschraubers schlägt nicht an, als er über dem Auto steht. „Die Kleine war wohl so erschrocken, dass sie die guten und die bösen Jungs nicht voneinander unterscheiden konnte“, erklärt Staatsanwalt Eric Maillaud am Donnerstagmorgen. Als Polizisten die Vierjährige in die Arme schließen, lächelt es schüchtern und beginnt, Englisch zu sprechen.

Der Kriminalfall gibt den Fahndern Rätsel auf

Das schreckliche Blutbad von Chevaline ist ein Kriminalfall, der den Fahndern große Rätsel aufgibt. Das Verbrechen gilt offensichtlich der Familie, die in Claygate, einer vornehmen Vorortsiedlung südlich von London lebt und aus dem Irak stammt. Den Namen des 50 Jahre alten Vaters, gebürtig aus Bagdad, gibt die Polizei mit Saad al-Hilli an. Er war Chef eines Unternehmens, das sich auf Luftaufnahmen spezialisiert hat. Neben zwei irakischen Pässen habe die Familie auch zwei schwedische Ausweise bei sich gehabt. Das von drei Kugeln getroffene achtjährige Mädchen wird mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus nach Grenoble geflogen. 24 Stunden nach dem Massaker befindet es sich immer noch in künstlichem Koma. Die Kopfverletzungen sind so schwer, dass weitere Operationen folgen werden. Um das Kind, die wichtigste Zeugin des Verbrechens, vor einem weiteren Mordversuch zu schützen, haben Polizisten das Hospital umstellt.

Der Radfahrer, Vater von drei Kindern musste offenbar sterben, weil er als unfreiwilliger Zeuge des Blutbades zu viel wusste. „Er war zum falschen Zeitpunkt an der falschen Stelle“, sagt der Staatsanwalt. Seinen Angaben zufolge wurden die drei Auto-Insassen und der Radfahrer durch gezielte Schüsse in den Kopf getötet. Am Tatort fanden die Polizisten 15 Patronenhülsen, abgefeuert aus einer halbautomatischen Schusswaffe.

Beliebtes Ziel britischer Urlauber

Die malerische Alpenregion rund um den Annecy-See, nicht weit entfernt von Genf und der italienischen Grenze, zählt zu den beliebtesten Zielen britischer Frankreich-Urlauber. Die getötete Familie weilte seit dem vergangenen Freitag am Annecy-See. Ihre Zelte nebst Wohnwagen hatte sie auf dem Campingplatz „Le Solitaire du Lac“ in Saint-Jorioz aufgeschlagen.

Die Polizei ermittelt in allen Richtungen. Eine Familientragödie wird ebenso wenig ausgeschlossen wie ein Raubüberfall oder ein Auftragsmord. Tagesgespräch in Frankreich ist jedoch die Frage, warum das vierjährige Mädchen so lange unentdeckt blieb und so unermessliches Leid über sich ergehen lassen musste.