Toronto. . Artistensohn Nik Wallenda läuft am Freitag über ein fünf Zentimeter dünnes Seil - 70 Meter über dem Abgrund der Niagara-Fälle. Etwa eine halbe Milliarde Menschen rund um den Globus werden das Ereignis angeblich an ihren Bildschirmen verfolgen. Vor Ort in Kanada und den USA sind mehr als 120 000 Besucher live mit dabei.

Am Ende musste Nik Wallenda nachgeben. Ein wenig jedenfalls. Wenn sich der 33-jährige Amerikaner am Freitagabend mit seiner Balancierstange auf den Weg ans andere Ufer der Niagara-Fälle macht, dann wird er sich einen Sicherheitsgurt um die Taille schnallen.

Nicht etwa weil er es wollte oder weil er Angst vor der Höhe hätte. Sondern weil seine Sponsoren und die Fernsehsender es verlangen. Sie wollen ganz sicher gehen, dass die Show des Jahres glücklich endet.

Nik Wallenda ist einer der besten Hochseilartisten der Welt und eigentlich hätte er den Gurt nicht nötig. Das Spiel mit dem Tod gehört zu seinem Mythos. Doch weil Wallenda seit seiner Kindheit von diesem einen Stunt geträumt hat, fügt er sich. Dieses eine Mal.

Seit 100 Jahren das erste Mal

Wallenda wird am Freitag etwas tun, was seit über 100 Jahren kein anderer Mensch mehr gewagt hat. Auf einem fünf Zentimeter dünnen Hochseil wird er die legendären Niagara-Fälle überqueren. Etwa eine halbe Milliarde Menschen rund um den Globus werden das Ereignis angeblich an ihren Bildschirmen verfolgen. Vor Ort in Kanada und den USA sind mehr als 120 000 Besucher live mit dabei.

Wenn alles gut geht, soll der Stunt etwa eine Dreiviertelstunde dauern. Wallenda will mit speziell angefertigten Wildlederschuhen auf der amerikanischen Seite der Fälle das Hochseil besteigen und dann über 600 Meter an das kanadische Ufer balancieren. Über einen Knopf im Ohr hält er Verbindung zur Außenwelt, 70 Meter über dem Abgrund, die rauschenden Wasserfälle im Rücken. „Ich werde durch die Gischt balancieren, im Nebel verschwinden und erst ganz zum Schluss wieder auftauchen.“

Stunts seit sieben Generationen

Zwar hat Wallenda schon Wolkenkratzer-Schluchten bezwungen, Flüsse überquert, ist auf Riesenrädern getanzt und hat es im Guinnessbuch auf sechs Weltrekorde gebracht. Doch die Niagara-Fälle sind eine andere Nummer. Zahllose Menschen haben hier schon ihr Leben gelassen. In Booten, in Fässern – oder auf dem Hochseil. Der kanadische Drahtseilartist Stephen Peer stürzte 1887 in den Tod, nachdem er die Fälle zuvor mehrere Male bezwungen hatte.

Auch in Wallendas Familie liegen Triumph und Tragik dicht beisammen. Seit sieben Generationen halten die Wallendas Zuschauer mit ihren Stunts in Atem. Nik Wallenda selbst balanciert seit seinem vierten Lebensjahr über das Seil. Sein Urgroßvater Karl, der die legendäre Artistenfamilie „Flying Wallendas“ begründete, stürzte 1978 im Alter von 73 Jahren bei einem Stunt zwischen Hochhäusern in Puerto Rico ab und starb. „Ich habe den Unfall hunderte Male im Fernsehen gesehen“, berichtete Wallenda.

Über 20 Jahre für die Aktion gekämpft

Über zwanzig Jahre lang hat er bei Politikern für seine Niagara-Aktion geworben. Denn eigentlich sind Stunts an den Fällen verboten. Der letzte, dem eine Überquerung gestattet wurde, war James Hardy im Jahre 1896. Der Kanadier war damals 21 Jahre alt.

Am Freitag um 22 Uhr Ortszeit wird Wallenda den Gurt anlegen – wie verlangt. Falls sich dieser unterwegs aber als unbequem herausstellen sollte, will er ihn abwerfen. Auflagen hin, Vorschriften her. Schließlich ist er ein echter Wallenda. Und als solcher ist er niemandem verantwortlich – außer sich selbst.