Paris. Eín deutscher Luftfahrt-Experte erhebt nach dem Absturz eines Airbus vor Rio schwere Vorwürfe gegen die französische Fluglinie Air France. Demzufolge saß in einer kritischen Situation ein unerfahrener Pilot am Steuer.
Seit über vier Monaten leiden die Hinterbliebenen der 228 Opfer des Todesfluges AF 447 Rio-Paris unter schlimmsten Alpträumen. Sie wollen endlich Gewissheit haben: Was spielte sich am Pfingstmontag in den letzten Minuten an Bord des Airbus 330 ab?
Der deutsche Experte Elmar Giemulla hat nun ein Katastrophen-Szenario entwickelt, das für Air France wenig schmeichelhaft ist: In der kritischen Phase hat wahrscheinlich nicht der erfahrene Kapitän am Steuerknüppel gesessen, sondern der Ersatzpilot mit geringer Flugerfahrung. „Außerdem war es ein verhängnisvoller Fehler, durch das verheerende Gewitter geflogen zu sein”, fügt der Professor für Luftverkehrsrecht an der TU Berlin hinzu. Giemulla, der die Hinterbliebenen der 28 deutschen Opfer berät, ist ein weltweit anerkannter Fachmann. Er untersuchte bereits die Unglücke in Lockerbie, Ramstein und Überlingen, ferner vertrat der die Opfer der Concorde-Katastrophe.
Das Air-France-Unglück vom Pfingstmontag mit 228 Todesopfern ist die größte Katastrophe der französischen Luftfahrt. Warum es dazu kam, könnten die Daten auf dem Flugschreiber verraten. Doch die sogenannte „Black Box” ruht unauffindbar in 4000 Metern Tiefe auf dem zerklüfteten Grund des Ozeans. So sind namhafte Luftfahrtexperten nun dabei, aus zahlreichen Puzzleteilen ein möglichst präzises Bild vom Ablauf der Katastrophe zu entwerfen.
„Wir verfügen nun über dringende Indizien, wonach der Kapitän nicht am Steuer saß”, sagt Giemulla. Stattdessen habe wohl der junge und weniger erfahrene zweite Offizier dessen Platz eingenommen, während der Co-Pilot auf seinem Platz verblieben sei.
Fatale Folgen habe ferner die Entscheidung der Air-France-Crew gehabt, den Airbus 330 durch die verheerende Gewitterfront mit schwersten Turbulenzen zu fliegen. Gab bei dieser Fehlentscheidung die knappe Kraftstoffberechnung den Ausschlag? Giemulla zufolge bemühen sich die Airlines nämlich darum, „möglichst viel Sprit zu sparen”. Hätte die Crew die dafür optimale Flughöhe verlassen und einen Umweg von nur zehn Minuten Verspätung gewählt, hätte die Maschine Paris nicht mehr direkt erreichen können. Wollten die Piloten folglich eine teure Zwischenlandung vermeiden, vielleicht auch um zusätzlichem Ärger mit den Passagieren wegen verpasster Anschlussflüge aus dem Wege zu gehen?
Nie eine Ursache allein
Giemulla beruft sich weitgehend auf die Unfallanalyse seines Kollegen Gerhard Hüttig. Dieser ist TU-Professor für Flugführung und Luftverkehr und saß als Airbus-Pilot 13 Jahre in den Cockpits von A 320 und A 330. „Ein Flugzeugabsturz hat nie eine Ursache allein”, sagt Hüttig, der lieber von einer „Ereigniskette” spricht. Einer Kette, in der die Piloten allerdings immer am Ende stünden.
Die umstrittenen „Pitot-Röhrchen” spielen für den TU-Professor eine eher nachrangige Rolle. Bei den „Pitots” handelt es sich um Sonden, die vorne am Rumpf des A 330 angebracht waren und als Geschwindigkeitsmesser dienen. Die Sensoren leiten präzise Angaben über die Fluggeschwindigkeit an die Bordcomputer weiter. Fallen sie aus, weil sie verdreckt oder vereist sind, droht die Maschine schlimmstenfalls abzustürzen. Für Hüttig steht nachweislich fest, dass bei der Todesmaschine AF 447 sogar alle drei „Pitots” ausgefallen waren. „Hätte die Crew die Gewitterfront umflogen, wären die Pitot-Röhrchen mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht vereist”, argumentiert Hüttig.
Erste Warnungen vor den anfälligen „Pitots” hatte es schon 1998 aus Deutschland gegeben, danach häuften sich die Hinweise. Dass Air France trotzdem nicht darauf reagiert habe, prangert neben Arnoux auch Experte Hüttig an: „Die Sonden hatten eine lange Historie von Ausfällen, jeder wusste Bescheid – warum ist nichts passiert?”