Emden/Essen. . Die überraschende Wende im Emder Mordfall an einer Elfjährigen sorgt für Aufregung. Der 17-Jährige, der des Mordes und der Vergewaltigung verdächtigt worden war, gilt nun als unschuldig. Falsche Anschuldigungen und Lynchaufrufe haben den jungen Mann traumatisiert, sagt ein Experte.

Noch am Mittwoch wurde er des Mordes und der Vergewaltigung verdächtigt. Zwei Tage später ist aus dem Tatverdächtigen selbst ein Opfer geworden – traumatisiert und verunsichert. Erst wurde dem 17-jährigen eine brutale Tat unterstellt, mit der er nach heutigem Kenntnisstand nicht in Verbindung steht. Dann führten Denunziationen und Lynchaufrufe im Internet zu einem "realen Bedrohungszustand" für den jungen Mann.

So sieht es der Jugendpsychotherapeut und Mitglied im Fachbeirat der Opferschutz-Organisation "Weißer Ring" Christian Lüdke. "Man muss davon ausgehen, dass er ein Trauma hat", sagte der Traumatologe aus Lünen. "Der junge Mensch wird den Schock seines Lebens erlebt haben, als er begriff, dass er des Mordes verdächtigt wird, auch wenn er wusste, dass er es nicht war." Mit einem schwerem Verdacht belastet zu werden, löse in jedem Fall große Ängste und Überforderung aus, so Lüdke weiter.

Dem 17-Jährigen war vorgeworfen worden, ein elfjähriges Mädchen in einem Parkhaus in Emden getötet zu haben, um seine vorherige Sexualstraftat an ihr zu verdecken. Am Freitagvormittag wurde er dann überraschend freigelassen. Der Berufsschüler könne den Ermittlungen zufolge nicht der Täter sein, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit.

Schwerer als der Falschverdacht wiege das, was damit in der Öffentlichkeit gemacht wurde, sagt Psychotherapeut Lüdke. Nach Bekanntwerden seiner Verhaftung waren im Internet Tötungsdrohungen laut geworden. Vor der Polizeidirektion in Emden hatte eine aufgebrachte Menschenmenge zur Lynchjustiz gegen den Tatverdächtigen aufgerufen. "Natürlich lösen solche Bedrohungszustände reale Ängste bis hin zu Todesängsten aus. Von einem Tag auf den anderen ist seine Welt nicht mehr sicher," urteilt der Experte.

Trauma kann nur heilen, wenn der Fall aufgeklärt wird

Bis die Wunden, die der Verlust dieses Sicherheitsgefühls geschlagen habe, geheilt seien, werde es dauern. Aber, so der Traumatologe weiter: "Er wird keine dauerhaften Schäden davon tragen", vorausgesetzt man finde den tatsächlichen Täter. Hilfreich sei auch "jede offizielle Klarstellung seitens der ermittelnden Behörden," dass es keine Anhaltspunkte für die Verdächtigungen gebe. Bis der Fall restlos aufgeklärt ist, bliebe der ehemalige Tatverdächtige im Internet eine Projektionsfläche für Spekulationen und klassische Vorurteile, vermutet Lüdke. Insofern müsse der junge Mann von der Polizei geschützt werden, bis der Fall abgeschlossen ist.

Lüdke ist überzeugt, dass das Alter des Jugendlichen bei der Verarbeitung des Traumas keine Rolle spielt. Entscheidend für die Wiederherstellung von Sicherheitsgefühl sei, ob er in seinem Leben bereits traumatisierende Zustände erlebt hätte und entsprechend vorbelastet sei. Der Trauma-Experte rät dem Opfer des Falschverdachts, zunächst zu Ruhe und Abstand in geschützter Umgebung. "Ein Kurhaus oder eine Insel im Mittelmeer und ein Umfeld an seiner Seite, das ihn schützt und stabilisiert" wären nach Ansicht des Psychotherapeuten jetzt geeignete Maßnahmen. Bedarf für psychologische oder psychotherapeutische Behandlung sieht er nicht.

Kriminologe Christian Pfeiffer kritisiert Vorgehen der Polizei scharf

Auch der Kriminologe Christian Pfeiffer geht davon aus, dass der Jugendliche durch die Aufrufe zur Lynchjustiz "den blanken Horror erlebt" habe. Mitschuld dafür sieht er bei den Ermittlern: "Die Polizei hat gravierende Fehler gemacht", sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Trotz dürftiger Verdachtsmomente hätten sie den Jugendlichen öffentlich in Handschellen vorgeführt. Die Polizei habe damit rechnen müssen, dass sich der Name des Verdächtigen über das Internet in Windeseile verbreite, sagte Pfeiffer. "Wenn die Polizei jetzt nicht sehr schnell den Hauptschuldigen findet, dann bleibt es für ihn ein Spießrutenlauf".

Der Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck trat entschieden Vorwürfen einer vorschnellen Festnahme und Vorverurteilung des 17-Jährigen entgegen. Es habe am Mittwochabend dringender Tatverdacht bestanden, "es blieb uns zu diesem Zeitpunkt keine andere Wahl und dazu stehen wir auch", sagte Südbeck zur Beantragung des Haftbefehls an diesem Abend. Polizei und Staatsanwaltschaft hätten "zu jeder Zeit richtig gehandelt". (mit dapd)