Essen. . Die zweijährige Mayla Yüksel hat heftige Anfälle, verkrampft und schlägt um sich. Experten der Uni Tübingen diagnostizieren einen Gendefekt, der weltweit einmalig ist. Die Krankenkasse ist keine große Hilfe, für Mayla fühlt sich bislang niemand zuständig.
Die Yüksels sind so, wie man sich eine perfekten Familie vorstellt. Ein junges, positives Paar mit drei tollen Kindern, die von Herzen willkommen waren – zwei Mädchen, ein Junge, vier, zwei und ein Jahr alt. Sie wohnen in einer Altbauwohnung mit hohen, pastellfarben gestrichenen Wänden, an denen viele Fotos hängen. Vater Server geht voraus, den kleinen Naim auf dem Arm. Für ihn beginnt gleich der Dienst, er studiert an der Polizeihochschule in Gelsenkirchen. Subaya, die Älteste, ist im Kindergarten, Mayla, die Zweijährige, mit der Mutter bei der Physiotherapie. Es ist die Zeit zwischen zwei Anfällen, und die gilt es zu nutzen. Wer weiß, wann Mayla sich wieder verbiegt, wieder um sich schlägt und schreit, Stunde um Stunde kaum schläft, nicht isst und die Mutter an sich bindet, die versucht, sie zu beruhigen.
Mayla Yüksel – so viel ist seit Kurzem bekannt - leidet an einem äußerst seltenen Gendefekt und scheint der bislang einzige bekannte Fall dieser Art weltweit zu sein. Ihre Krankheit teilt den Alltag der Familie Yüksel ein in zwei Kategorien: die Zeit zwischen und die Zeit während ihrer Anfälle. Die Last, die Yasmin und Server Yüksels seit Maylas Geburt zu stemmen hatten, in denen das Kind fast täglich Anfälle bekam, würde locker für ein Leben reichen.
Verständigung in Gebärdensprache
Den größten Teil freilich trägt Mayla selbst. Sie ist hübsch und zart mit dunklen Locken und wirkt wie ein ganz normales Kind. Aber: „Sie spricht nicht“, sagt die 27-jährige Mutter: „Irgendwie müssen sich die Stunden, die ihr fehlen, ja bemerkbar machen.“ Stunden, in denen sie gespielt oder geschlafen hätte, wenn sie gesund wäre. Die Mutter hat der Tochter Gebärdensprache beigebracht – Zeichen für „Hund“ oder „Trinken“. Das kann Mayla perfekt.
Weil ihnen anfangs keiner so recht glauben wollte, haben die Yüksels die Anfälle ihrer Tochter gefilmt. Die jüngsten Aufnahmen zeigen das kleine Mädchen, wie es sich windet, mit den Fäusten auf die Oberarme schlägt, sich kratzt. Die kleinen Zehen spreizen sich auseinander, die Beine schlagen wie Scheren, der Rücken drückt sich durch. Dazu weint das Kind bitterlich oder schreit durchdringend, festgehalten von der Mutter, die beruhigend auf sie einredet. Denn Mayla ist im Kopf ganz klar, bekommt genau mit, dass da etwas mit ihr passiert. Acht bis zehn Stunden dauert so ein Anfall, es gab Zeiten, da standen die Nachbarn besorgt vor der Tür, weil Mayla von morgens bis abends oder von nachts bis mittags oder von abends bis morgens schrie.
Mayla muss starke Psychopharmaka nehmen
Zurzeit ist Mayla eingestellt auf starke Psychopharmaka, deren Wirkung jeden Erwachsenen umhauen würde. Aber diese Mittel verlängern wenigstens die Pausen zwischen den Anfällen, die Maylas Blutdruck auf 180 hochjagen.
Bereits während der Schwangerschaft hatte Yasmin Yüksel das Gefühl, ihre Tochter habe heftigeren Schluckauf als ihr erstes Kind. Als Mayla geboren war, wunderten sich die Eltern über die Zuckungen des Säuglings, die von den Ärzten als harmlose Schlafkrämpfe, so genannte Myoklonien, bezeichnet wurden. Mit den ersten obligatorischen Impfungen jedoch wurden aus den Zuckungen heftige Anfälle, die mit jeder Woche an Heftigkeit und Häufigkeit zunahmen. Maylas Mutter wechselte den Kinderarzt, wandte sich an die erste, die zweite, die dritte Klinik.
Niemand ist zuständig
Über Wochen ging Yasmin Yüksel mit Mayla in den Kliniken ein und aus. Maylas Gehirnströme wurden untersucht, ihr Darm gespiegelt, ihr Rückenmark punktiert. Mitten im Stress um Maylas Krankheit wird Yasmin Yüksel erneut schwanger, ungeplant diesmal. Zur Unklarheit über Maylas Zustand kam die Angst um die Gesundheit des nächsten Kindes. Mayla wurde mit Morphium behandelt, mit Mitteln gegen Parkinson und Epilepsie. Weil man glaubte, Maylas Anfälle hingen irgendwie mit dem Mutter-Kind-Verhältnis zusammen, trennte man die beiden. Aber nichts half. Maylas Krankheit hat keinen Namen.
Also gibt es auch keine Hilfe, keine Stelle, keine Behörde, die für die Familie Yüksel zuständig wäre. Schließlich wenden sich die Eltern an die anthroposophische Klinik Herdecke, die wiederum lassen Maylas DNA an der Uniklinik Tübingen untersuchen. Endlich wird ein genetischer Defekt diagnostiziert, die weltweite Datenbank kennt nichts Vergleichbares. Mayla wird nun zum Forschungsobjekt.
Zur Weihnachtszeit im Hospiz
Geholfen hat die wissenschaftliche Popularität der Familie wenig, Mayla ist zwar zu 100 Prozent schwerbehindert, aber kein Pflegefall. Die Kaufmännische Krankenkasse hat einen Antrag der Yüksels abgelehnt, nachdem der Medizinische Dienst Mayla als gesund einstufte. „Ich habe sie gebeten, zu kommen, wenn Mayla einen Anfall hat“, sagt die Mutter bitter: „Aber man sagte mir, das ließe sich nicht einrichten...“. Mayla falle nicht in Pflegekategorien, brauche keine Sonde, keinen Katheter, hieß es. Doch nirgendwo steht, dass Mayla während eines Anfalls einen Erwachsenen über Stunden komplett in Anspruch nimmt. Wenigstens das Jugendamt der Stadt hat, nach langem Hin und Her, eine Hilfe bewilligt, die 25 Stunden in der Woche kommt. Doch Maylas Anfälle richten sich nicht nach den Arbeitszeiten der Tagesmutter, nicht danach, ob Vater Server Schichtdienst hat, der kleine Bruder Hunger oder Schwester Subaya vom Kindergarten abgeholt werden muss.
Subaya, die Große, versucht schon, Mayla abzulenken, wenn es ihr schlecht geht, Naim, der Kleine, zieht sich zurück. „Die Familie benötigt dringend Hilfe und Unterstützung“, schreibt das Kinder- und Jugendhospiz Balthasar in Olpe in einer Stellungnahme. Die Mutter sei „psychisch und physisch an ihre Grenzen gekommen“. Sechs Tage waren die Yüksels vor Weihnachten im Hospiz für schwer kranke Kinder, um zur Ruhe zu kommen und Mayla einmal loslassen zu können. Den Aufenthalt hat das Kinderhospiz der Familie mit Spenden ermöglicht. Mehr ist nicht drin. Die Krankenkasse zahlt nur, wenn Mayla eine Pflegestufe hätte.