Südpol. .

Morgen, an Neujahr, stehen sie wie jedes Jahr früh auf. In dicken Hosen und Jacken, mit Mütze und Handschuhen stellen sie sich im Halbkreis auf, Dutzende Menschen unterschiedlicher Nationen. Erstmals stand hier ein Mensch vor 100 Jahren. Noch heute erinnert eine Gedenktafel daran: Roald Amundsen, erster Mensch am geografischen Südpol. Ein Marker aus Holz und Bronze, geformt wie ein Sextant, zeigt daneben die genaue Position des südlichsten Punkts der Erde an – der morgen früh in einer feierlichen Zeremonie versetzt wird.

Nötig wird die Korrektur nicht etwa, weil die Erde sich verformt hätte. Der Südpol liegt immer noch dort, wo das Netz aus Längen- und Breitengraden ihn vorsieht. Doch der Marker wandert jedes Jahr etwa zehn Meter – und mit ihm die gesamte Amundsen-Scott-Station, die die Teilnehmer der Neujahrszeremonie beherbergt. „Die Station liegt auf drei Kilometer dickem Eis, das sich wie ein Gletscher kontinuierlich Richtung Meer bewegt“, erklärt Dr. Jens Dreyer. Der Physiker arbeitet momentan an der Universität Bochum und ist erst vor Kurzem von seinem einjährigen Aufenthalt am Südpol zurückgekehrt. Er ist damit einer von 1327 Menschen, die jemals den kompletten antarktischen Winter am Südpol verbracht haben.

Im T-Shirt draußen - bei minus 13 Grad

Der Südpolmarker wird jedes Jahr um einige Meter versetzt.
Der Südpolmarker wird jedes Jahr um einige Meter versetzt.

Schon im antarktischen Sommer, unserem Winter, ist der Südpol schwierig zu erreichen. Dreyer musste über Neuseeland zunächst zur küstennahen Antarktisstation McMurdo fliegen. Statt am nächsten Tag mit einer kleinen Propellermaschine zum Südpol weiterzureisen, saß der Physiker zehn Tage lang fest, stets bereit zum Aufbruch, sollte das Wetter sich spontan doch noch bessern.

Einmal war er schon in der Luft, als einer der vier Motoren des Flugzeugs ausfiel und die Piloten umkehrten. „Am Boden erfuhren wir dann, dass bis zur Landung sogar drei Motoren ausgefallen waren“, erzählt Dreyer. Am 2. November erreichte Dreyer schließlich die US-amerikanische Forschungsstation Amundsen-Scott, wenige hundert Meter vom geografischen Südpol entfernt. Minus 49 Grad herrschen hier im Durchschnitt. Im Sommer steigt die Temperatur auf bis zu minus 13 Grad. In dieser Zeit darf man sich nicht wundern, manchem Bewohner der Forschungsstation draußen im T-Shirt zu begegnen. „Die Luft am Südpol ist extrem trocken, deshalb fühlt es sich nicht so kalt an wie bei uns“, erklärt Dreyer.

Außergalaktische Teilchen 2500 Meter tief im Eis

Der Sommer ist auch die Zeit des Anpackens. Bis zu 250 Menschen leben dann am Südpol. Schneeverwehungen aus dem Winter müssen beseitigt werden, Reparaturen und Bauarbeiten stehen an. Physiker Dreyer hat in dieser Zeit gemeinsam mit Kollegen 900 Meter von der Station entfernt die Forschungsanlage „Icecube“ komplettiert, eine Installation, die 2500 Meter tief im Eis außergalaktische Elementarteilchen, sogenannte Neutrinos, nachweisen soll.

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Wenn nicht gerade Arbeiten anstehen, kann das Leben im ewigen Eis aber auch eintönig sein. Die Bewohner der Station nehmen Feste und Zeremonien wie an Neujahr daher dankend an. „Weihnachten haben wir sogar zweimal gefeiert, am richtigen Termin und im antarktischen Winter“, erinnert sich Dreyer. Auch einen Baum gab es – aus Schrottteilen. „Die Konvention zum Schutz der Antarktis verbietet es, Tiere oder Pflanzen einzuführen“, sagt der gebürtige Westfale. Das gelte selbst für abgesägte Tannen.

Die teuersten Erdbeeren der Welt

Dass es trotzdem regelmäßig frischen Salat und selten auch mal eine Erdbeere gibt, ist der Weltraumforschung zu verdanken: Um zukünftig Menschen auf dem Mond oder dem Mars verpflegen zu können, erproben Forscher am Südpol, wie sich Pflanzen in Hydrokulturen züchten lassen. „Die Erdbeeren aus diesem Treibhaus sind wahrscheinlich die teuersten der Welt“, schmunzelt Dreyer – gerüchteweise soll jede 10 000 Dollar gekostet haben.

Ende Februar beginnt schließlich, was der Bochumer Physiker als „große mentale Herausforderung“ bezeichnet: die Winterisolation. Nur 49 Menschen bleiben auf der Station, die ab jetzt wegen der Kälte weder auf dem Land- noch auf dem Luftweg verlassen werden kann – acht Monate lang. Die einzige Verbindung zur Außenwelt bildet ein ausrangierter Wettersatellit, der morgens für etwa eine Stunde Funkverbindungen ermöglicht. Fast alle übrigen Satelliten sind am Südpol nicht in Sicht. Eine Ausnahme ist noch das Satellitennetz TDRS – doch das steht den Südpolleuten nicht zur Verfügung, wenn die Nasa es für eigene Zwecke belegt.

Die Amundsen-Scott-Station steht direkt am Südpol
Die Amundsen-Scott-Station steht direkt am Südpol

Einmal wurden mitten im Winter Medikamente benötigt. Sobald das Wetter es zuließ, startete ein Flugzeug, um die Versorgung aus der Luft abzuwerfen. Bei einem Probelauf vor Wintereinbruch hatte sich der Fallschirm einer Kiste nicht geöffnet – der Einschlagkrater war zwei Meter tief. Diesmal ging alles gut: Mit brennenden Fässern markierten Dreyer und einige andere das Abwurfgebiet. „Nur das Auffinden der grauen Kisten am grünen Fallschirm hat gedauert“, kritisiert Dreyer. Die Leuchtaufkleber hatten in der Kälte versagt.

Für medizinische Eingriffe gibt es vor Ort einen Arzt, der Röntgen- und Ultraschallgerät zur Verfügung hat. Vollnarkosen sind unmöglich, ebenso wie Zahnbehandlungen. „Wir wurden vor unserer Anreise komplett untersucht, damit möglichst nichts passiert“, erklärt Dreyer.

Man orientiert sich am Klang der Flaggen

Stürze in Schnee und Eis gibt es dennoch – dann nämlich, wenn nach den Menschen sich auch das Licht verabschiedet und im März für sechs Monate die Polarnacht beginnt. Ganz dunkel werde es aber nicht, betont Dreyer: „Es gibt immer das Nachthimmelsleuchten. Das ist wie eine Aurora, aber durch ultraviolettes Licht.“ Und wenn auf dem Weg zum Icecube-Gebäude Wind und Schnee die Sicht nehmen, „dann kann man sich am Klang der Flaggen orientieren, die alle zehn Meter stehen“, sagt Dreyer.

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Wenn es stürmisch wird, bleibt man besser in der Station. „Die schwankt dann auf ihren Säulen wie ein Schiff“, sagt Dreyer, der im September mit 93 Kilometern pro Stunde die höchste je am Südpol gemessene Windgeschwindigkeit erlebt hat – und eine gefühlte Temperatur von minus 90 Grad. Dafür gibt es im Winter Polarlichter: „Sie sehen aus wie Feuer am Himmel“, schwärmt Dreyer, „und sie bewegen sich, was man auf Fotos nicht einfangen kann“.

Ob er noch einmal zum Südpol zurückkehren wolle? „Sehr gerne“, sagt der 35-Jährige, „aber nochmals überwintern – das weiß ich nicht“.