Tokio/ Essen.. Die japanische Regierung setzt ihre unrühmliche Kommunikationsstrategie fort - und verkündet eine “Kaltabschaltung“ des explodierten Atomkraftwerks. Die Katastrophe lässt sich allerdings nicht einfach abschalten.
Keiner scheint seinen Worten so recht zu glauben, auch er selbst nicht. Als der japanische Premierminister Yoshihiko Noda etwas bleich im Gesicht und im grauen Anzug vor einem blassroten Vorhang stehend die „Kaltabschaltung“ des havarierten Atomkraftwerks Fukushima Daiichi verkündete, wurden selbst in den eher zurückhaltenden japanischen Medien sofort kritische Stimmen laut. Der TV-Sender TBS zeigte besorgte Bewohner aus Fukushima und Experten, die offen ihre Zweifel bekundeten.
Durch die Aussage Nodas ist Fukushima nicht sicherer geworden. Das Drama noch lange nicht beendet. Eine Katastrophe lässt sich nicht einfach abschalten. Allein der Begriff „Kaltabschaltung“ muss irritieren. Die Kraftwerksindustrie definiert es klar: Die Brennstäbe-Temperatur ist unter 100 Grad gesunken. Man kann sie entnehmen. Das Problem in Daiichi: „Man weiß nicht, wo sich der geschmolzene Kernbrennstoff befindet“, sagt Heinz Smital, Atomenergieexperte bei Greenpeace. „Wahrscheinlich hat er den Reaktordruckbehälter vollständig verlassen und ist tief in den Boden eingedrungen.“
Nodas Erklärung bezeichnen einige Experten als fahrlässig. Smital ordnet sie in die Kategorie Beruhigungstaktik ein. Ähnlich wie die japanische Sprachlehrerin Hanako Enya. Sie nennt es „Augenwischerei“. „Alle Japaner glauben das nicht“, sagt sie und vermutet: „Die wollten nur etwas Schönes vor dem Jahreswechsel sagen.“ Die Regierung setzte ihre unrühmliche Kommunikationsstrategie fort: Als der erste Reaktor des Akw in die Luft flog, nannte sie das nicht „Explosion“, sondern „explosionsartiger Vorgang“, erklärt Enya.
Betreiber Tepco soll die Aufsicht über die Atomruinen entzogen werden
Wahrheitssuche im Bonsai-Format. Der erklärte Atomkraftgegner Toraji Tachiki schätzt: „Die Regierung und der Betreiber Tepco veröffentlichen nur die ‚Informationen‘, die ihnen in den Kram passen.“ Zu der Erkenntnis kommt auch die unabhängige Kommission unter der Leitung des ehemaligen japanischen Premierministers Yukio Hatoyama, die seit März nach der Wahrheit sucht. Im Wissenschaftsmagazin „Nature“ forderte er unlängst, dem Betreiber Tepco die Aufsicht über die Atomruinen zu entziehen. Weil Tepco zahlreiche Fragen erst gar nicht beantwortet. Weil der Eindruck entstehe, Aufklärung sei nicht erwünscht.
Das sagt auch der japanische Journalist Tomohiko Suzuki, dessen Enthüllungen das ostasiatische Land zurzeit in Aufregung versetzen. Der 55-Jährige arbeitete vier Wochen „undercover“ in Fukushima – bis seine wahre Identität entdeckt und er des Geländes verwiesen wurde. Er berichtet von haarsträubenden Zuständen, von Arbeitern, die ihre Dosimeter manipulieren, bewusst falsch eingestellten Geigerzählern, kosmetischen Aufräumarbeiten.
Von der Normalität, die Noda beschwört, ist man in Japan noch Jahrzehnte entfernt. Obwohl nur sechs der 54 Atomkraftwerke zurzeit am Netz sind, setzt Noda mangels Alternativen weiter stur auf Atomkraft. Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Noda möchte Tepco die Führung eines Industrie-Konsortiums zum Export von Atomkraftwerken nach Vietnam anvertrauen, berichtet die Süddeutsche Zeitung. „Japan verhandelt über Exportgeschäfte mit verschiedenen Staaten“, sagt auch Smital.
Die Regierung hat dasVertrauen verspielt
Ein lukratives Geschäft wäre eine vertrauensbildende Maßnahme. Glaubten in den ersten Tagen nach der Dreifachkatastrophe, die seit 11. März das Land in Atem hält, noch relativ viele Japaner ihrer Regierung, so führten Aktionen wie die Bekanntgabe der Kernschmelze mit zweimonatiger Verspätung dazu, dass dieser Vertrauensvorsprung rapide schwand. Eine Erfolgsgeschichte klingt anders.