Lüttich. . In der Nacht zum Donnerstag ist ein weiteres Opfer des Attentats von Lüttich gestorben. Eine 75-jährige Frau erlag ihren Verletzungen im Krankenhaus. In Lüttich sind kaum noch Spuren des verheerenden Verbrechens zu finden. Die Stadt in Belgien trauert unauffällig.

Zwei Tage nach dem Amoklauf von Lüttich ist die Zahl der Todesopfer auf fünf gestiegen. Eine 75-Jährige erlag in der Nacht zum Donnerstag ihren Verletzungen, wie ein Sprecher des Krisenzentrums der Nachrichtenagentur dapd bestätigte. Etwa 20 Personen würden noch im Krankenhaus behandelt. Der 33-jährige vorbestrafte Nordine A. hatte am Dienstag auf dem Weg zu einem Polizeiverhör in der Innenstadt mehrere Granaten gezündet, das Feuer auf Passanten eröffnet und sich anschließend selbst erschossen.

Er tötete neben der Rentnerin zwei Schüler, ein anderthalb Jahre altes Baby sowie eine 45-jährige Putzfrau. Das Blutbad hat in Belgien eine Diskussion über eine Verschärfung der Waffengesetze angestoßen.

"Das hier ist Belgien“, sagt der junge Deutsche, und natürlich hat er Recht: Zuhause würde jetzt ein Blumenmeer liegen, eine Menschentraube würde trauern bei Kerzenlicht, und irgendwie wäre wohl die Welt ein bisschen stehen geblieben. In Lüttich, wo am Vortag fünf Menschen starben, an diesem Busbahnhof, wo Granaten flogen und Schüsse peitschten, sieht man – nichts.

Abschiedsbrief entdeckt

Keine Blumen. Keine Kerzen. Keine Kreidezeichnungen der Polizei auf dem Kopfsteinpflaster. Nur die mehr als 30 Einschusslöcher im Schaufenster eines Cafés. Und hinter den durchsiebten Scheiben die Frühaufsteher: wie sie Kaffee trinken, Zeitung lesen, leise lachen im Morgengrauen. Als wäre nichts gewesen.

Dabei war mehr, als sie noch am Dienstag ahnten: Spät abends machte die Nachricht die Runde, dass der 33-jährige Täter schon in seinem Haus zugeschlagen hat. In dem hellen Ziegelbau an der Rue de Campine fanden die Ermittler weitere Waffen, und in einer angeschlossenen Lagerhalle ein weiteres Todesopfer, die Putzhilfe eines Nachbarn. Und sie haben einen Abschiedsbrief entdeckt: „Ich liebe dich. Viel Glück“, schrieb der Mörder an seine Frau; offenbar hatte er ihr am Vorabend eine große Summe Geld überwiesen.

Das Motiv des Attentäters ist weiter unklar

Sein Motiv ist am Mittwoch weiter unklar. Bekannt ist, dass der 20-fach vorbestrafte Mann für den Tattag zu einer Anhörung in der Polizeistation geladen war, zu der er nicht erschien. Angeblich ging es um den Vorwurf einer Vergewaltigung. Auch, ob er sich an der Place Saint-Lambert selbst in den Kopf schoss oder durch eine in der Hand gezündete Granate ums Leben kam, ist strittig. Das Bild seiner blutigen Leiche jedenfalls ist in allen Zeitungen zu sehen: Stunden hat der Körper, dunkle Hose, helle Jacke, auf der Straße neben dem glitzernden Weihnachtsbaum gelegen, neben sich seine Kalaschnikow und verstreut ein paar Magazine. Erst der Kampfmittelräumdienst gab den Tatort schließlich frei.

Am Abend schon fuhren die Busse wieder, ganz normal, zum „Hopital“, wohin sie die Verletzten gebracht haben, 120 mindestens, von denen einige immer noch um ihr Leben kämpfen. Und morgens im Berufsverkehr: Da stehen die Menschen wieder an den Haltestellen der 70er- und 80er-Linien, Akten-, Schul- oder Einkaufstaschen in der Hand. Die wenigsten werfen überhaupt einen Blick, sie eilen vorbei, hasten durch den Regen. Sie sehen nicht das sternförmige Einschussloch in der Mauer, nicht die geborstenen Scheiben der Busstation, die am späten Vormittag abgeholt werden. Sie sind schau-unlustig. Das Leben geht weiter, der Lütticher auch.

Tödlich getroffen

Kichernd sitzen zwei junge Mädchen auf einer Bank, Angst? Nein, woher, „il est mort“, er ist doch tot; die Hand fährt über die Kehle, „finished“.

Noch drei Andere sind tödlich getroffen worden, der 15-jährige Mehdi, der 17-jährige Pierre, beide waren mittags um halb eins auf dem Nachhause-Weg von der Schule: Dienstag war Klassenarbeits-Tag. Und ein kleines Mädchen, gerade 17 Monate alt. Ins Visier des Täters geraten gleich neben dem Weihnachtsmarkt, der hier mit einem „Kindertraum-Zelt“ beginnt.

Lüttich sei „ins Herz getroffen“, schreibt die örtliche Zeitung „La Meuse“, und selten hat das so gestimmt: Dieser Place Saint-Lambert ist die tatsächliche Mitte der Altstadt, umrahmt von der gotischen Pracht des Justizpalasts, von Einkaufszentren und sternförmigen Gassen, deren Pflaster die Stadt zum Fest Auslegeware gönnte - wo immer der Mörder herkam, er kam über den Roten Teppich. Nur wenige Meter von hier hat im Januar 2010 eine Gasexplosion eine Häuserreihe niedergerissen. 14 Tote gab es, auch das sind Nachrichten aus Lüttich. „Ich mache mir Sorgen um den Ruf unserer Stadt“, sagt der Bürger Romuald, 27. „Wir gelten sowieso als die Bronx von Belgien. Und jetzt das.“

Überhaupt werde es nun wieder heißen: Typisch Belgien. Wie kann es sein, dass ein 2008 zu 48 Monaten Verurteilter schon im Herbst 2010 wieder frei kam? Wie, dass ein Bewährungshelfer nicht merkte, dass der Waffensammler wieder Waffen hortete? Selbst sein Anwalt wird doch so zitiert: „Ein sehr unangenehmer Mann, mit tiefen Wurzeln in die Unterwelt.“ Und auch die Nachbarn berichten von einem Choleriker, der viel gestritten habe mit seiner Frau. „Fällt alles wieder auf Belgien zurück“, fürchtet Romuald.

Weiße Rosen

Es ist halb zehn am Mittwoch, als doch jemand die ersten Rosen bringt. Weiße sind es, alle bringen weiße Rosen, die in den nächsten Minuten heraneilen und gleich wieder wortlos verschwinden; sie legen sie auf die Bank an der Bushaltestelle oder binden sie an deren nackte Stahlträger – die Feuerwehr hat das zerschossene Verbundglas noch am Abend herausgesägt.

Am späten Vormittag kommen ein paar Schülergruppen. Doch der Wind fegt die Kerzen sofort aus und ein paar Osterglocken aus Plastik um. Was bleibt auf dem Platz ist glitzernder Weihnachtsschmuck: „Joyeuse Fetes“, „schöne Festtage“.