Gorleben. . In diesen Tagen macht sich Deutschlands Wutbürgertum wieder auf ins Wendland, um die Atomtransporte zu blockieren. Aber wie geht es den Bewohnern des Landstrichs, der einst Zonenrandgebiet war?

Wenn im Wendland im Herbst aller Mais geerntet ist, wächst neues Gelb auf den Feldern, an den Bäumen und in jedem Garten: x-tausendfach das X, Zeichen der Atomkraftgegner auf dem platten Land rund um das Zwischenlager Gorleben. Denn im Novembernebel kommt wieder der Castor und aus der ganzen Republik die Wutbürgerschaft. Nur gibt es ja Menschen, die leben immer hier. Ein Leben mit der Sorge, ein Leben als Dauer-Demonstration, ein Leben in Protestgelb.

Laase. Gisela Cremer bringt Kuchen und Leitungswasser, das sei hier gut, aber ob es strahlt, „das weiß man leider nie“. Nun neigt die alte Dame nicht zu Angst, aber die „Befürchtung, dass wir uns den Beelzebub ins Land holen“, die hatte sie von Anfang an. Hat ihn aber auch vor Augen, wo sie hinschaut: Links an Laase mit seinen 138 Einwohnern rollt der Castor vorbei, aus dem Klofenster sind nachts die Lichter vom Lager in Gorleben zu sehen.

Als in den 70ern der Probe-Transport kam, war Gisela Cremer eine der ersten mit einem Ausweis der „Republik Freies Wendland“, die es bis heute nur in ihren Träumen gibt. Damals hat sie versucht, den Treck mit Schmierseife ins Schleudern zu bringen, ein Nachbar rückte mit Schlagsahne an, aber, „wissen Sie, ich weiß zu viel, um mir zu wünschen, dass wir ihn wirklich aufhalten. Man muss sich ja im Klaren sein, was passiert, wenn der Castor entgleist und die Böschung hinunterstürzt.“ Allerdings hat sie schon oft geträumt, wie eine Brücke einknickt unter der Last der Waggons, wie die sich verhaken und nichts mehr weitergeht – „das fand ich schön“.

Weil sie zusammenhalten im Wendland, sang Gisela Cremer auch im Protestchor und gründete die „Initiative 60“ mit, deren Idee war: „Wir Alten können dicht rangehen, die jungen Leute sollten das nicht!“ Darüber ist sie 83 geworden und kocht immer noch Hühnersuppe. In jüngeren Jahren schliefen bis zu 120 Demonstranten in Cremers altem Bauernhaus, und alle bekamen sie zu essen. Auch in diesem Jahr wird Gisela Cremer sich wieder etwas ausdenken „zu Ehren des Castors“, aber „lieber wäre mir gewesen, sie hätten ihn nicht geschickt“.

Der Castor kommt zum Kaffee, wenn man Jan Becker recht versteht. Soll heißen, die Menschen haben einander gefunden in diesem Thema, sie sind nicht verbissen dabei, „knallhart in ihren Forderungen, aber nicht aggressiv“: Man findet Freunde unter Gleichgesinnten, und der Castor ist immer dabei. Deshalb auch ist Jan hierher gekommen, der Student und Aktivist, als Teil einer „Subkultur von Leuten, die auf einer Wellenlänge sind“. Es gibt viele im Wendland, die hier wohnen, um sich zu wehren. Die denen helfen wollen, die sich wehren, weil sie hier wohnen. „Die wissen seit 30 Jahren, dass sie Recht haben.“

Dabei haben die Menschen hier Erfahrung mit der Polizei, mit Tränengas und dem Gefühl der Ohnmacht. Aber es ist nicht das, sagt Jan Becker, was die Leute mit nach Hause nehmen, es sei diese Erinnerung: „Man ruft nach einer Decke und bekommt zwei.“ Das Miteinander, der gemeinsame Einsatz für ein Ziel. Keine Wut: Durchhaltevermögen.

Jan Becker wohnt in einer Wagenburg, auch das gehört zur Kreativität, zur Kultur dieses Landstrichs, den viele gerade dafür lieben. Gerade hat er neue Transparente geholt, aufzuhängen am Waldeingang von Mützingen: „Einfach mal richtig abschalten“. Der 29-Jährige sagt, die Leute werden wieder alle kommen, weil sie wissen, „dass mit dem Ausstieg die Sache nicht vom Tisch ist“. Es gehe ihnen nicht darum, den Castor zu verhindern, sondern „letztlich sogar um die Demokratie“.

Deshalb putze sich das Wendland jetzt wieder heraus: bemalt die Xe mit frischem Gelb, setzt die Protestpuppen vor die Tür, spannt die Traktoren an. Bereit für den Castor. Jans Wohnwagen stehen 25 Kilometer vor Gorleben, „näher ran gehen wir nicht, das ist eine reale Bedrohung“. Auf dem Tisch liegt ein Fachbuch: „Wohin mit dem radioaktiven Abfall?“ Das Thema, sagt Jan, „beschäftigt einen täglich“.

Clenze. Wilhelm Wittstamm ist lustig, aber trotzdem im Widerstand: „Das wird hier gern gesehen.“ Vielleicht ist dieser Vater von fünf Kindern tatsächlich ein wunderbares Beispiel, um zu erklären, wie man lebt im Wendland mit dem Zwischenlager, weil es ohne eben (noch) nicht geht: Lachend lebt man besser.

Wittstamm, gebürtig aus Recklinghausen, zog aufs Land und erfuhr erst danach, was für ein Land das war. Er hat sofort mitgemacht, bevorzugt Faxen: Denn von Haus aus ist der 56-Jährige Zauberer, ein Entertainer. Er, der einst Unpolitische, der Angst hat vor Wasserwerfern, verkleidete sich als Polizist, eröffnete später am heikelsten Punkt der Strecke einen „Musenpalast“, in dem Künstler den Protestlern die Seele wärmen. „Wenn einer frustriert am Zaun steht und sein Schildchen hochhält, dann freut der sich, wenn einer den Uhlenspiegel macht.“ Es dauerte nicht lange, da erkannte das Wendland in Wittstamm seinen „Mister X“.

„Es geht nicht um ,anti’“, sagt Mister X, „sondern darum, die Zukunft lebenswert zu machen.“ Die Leute im ehemaligen Zonenrandgebiet hätten „die Nase voll, dass ihnen das Zeug vor die Nase gestellt wird. Die wollen leben.“ Und der Widerstand im Wendland sei diesem „Leben zugewandt“. Wittstamms Protestplakate sind schon etwas abgeschabt, manchmal hat selbst er „die Faxen dicke“, aber wenn der Castor kommt, ist er natürlich wieder draußen mit seiner Kunst und seinen Kindern. „Der Virus sitzt tief“, sagt Wittstamm. „Ein Salzstock ist nun mal nicht das beste Wohnzimmer für so ‘nen Atomscheiß.“

Mammoißel. Neulich hat Annette Quis mal wieder darüber nachgedacht: „Was mache ich denn, wenn. . .“ Wenn das „hochgeht“. Die Sorge haben sie hier ja fast alle, und Frau Quis will „helfen, das zu verhindern“. In all den Jahren, die die 59-Jährige hier lebt, ist sie losgezogen, wenn der Castor kam, „das muss irgendwie, das geht nicht anders: Man fühlt sich sooo verarscht und so zornig, nach 30 Jahren noch.“

Annette Quis, die Bio-Bäuerin, die lebt von der gesunden Natur im Wendland, ist „fest überzeugt, dass ein Salzstock nicht sicher sein kann, das ist hochgefährlich, ich will das nicht“. Deshalb hat sie die Anti-Atomkraft-Fahne aus dem Dachfenster gehängt, sie trägt das gelbe X vor sich her wie bald jeder hier, am Auto oder an der Jacke. Gorleben ist immer Thema, auch wenn der Castor gerade nicht kommt.

Nicht nur Annette Quis wäre „froh, wenn ich das endlich nicht mehr machen müsste“. Aber sie hat schon „so viel Leben da rein gesteckt“. Und gerade nach Fukushima, glaubt sie, müssen sie im Wendland weitermachen. „Es sieht hier wunderschön aus, man sieht nichts, riecht nichts, dabei man weiß genau: Da ist was, das überhaupt nicht geht.“