Bonn. Tierschützer sind empört: Jedes Jahr werden Millionen von männlichen Mastschweinen in Deutschland ohne Narkose kastriert. Hoden ab ohne Betäubung - Tierfreunde sprechen von "brutalem Irrsinn".
Mit einer Schubkarre fährt Bäuerin Ingrid Duensing-Knop die rosigen Ferkel heran. Dann geht alles ganz schnell: Tierarzt Guido Walter schnappt sich eines der quiekenden Schweinebabys, betäubt es mit dem Narkosegas Isofluran und setzt das messerscharfe Skalpell an. Kurz darauf ist das Schweinchen kastriert, seine abgeschnittenen Hoden landen in einem Plastikeimer. Das sanft schlafende Ferkel legt Walter zurück in die Schubkarre. Dann greift sich der Tierarzt das nächste quiekende Schwein.
Zig Millionen von männlichen Mastschweinen werden jedes Jahr in Deutschland kastriert. Das beugt dem sogenannten Ebergeruch vor, der das Fleisch praktisch ungenießbar macht. Dass dies unter Betäubung stattfindet wie auf dem Hof der Duensing-Knops im niedersächsischen Rodewald im Landkreis Nienburg, ist allerdings die große Ausnahme. In der konventionellen Schweinemast wird das jeher ohne Betäubung praktiziert.
Tierschutzbund spricht von Skandal
Zwar muss den Tieren seit Mittwoch in Deutschland per Gesetz ein Schmerzmittel verabreicht werden. Dies lindert aber nur den postoperativen Wundschmerz, nicht den eigentlichen Schmerz beim Herausschneiden der Hoden. Der Deutsche Tierschutzbund hält das für einen Skandal. In den benachbarten Niederlanden beispielsweise wird mit Betäubung kastriert.
Auch Bauer Rolf Duensing-Knop hat seinen männlichen Schweinen 20 Jahre lang selbst die Hoden entfernt - ohne Betäubung. 1993 trat er dann dem Verein Neuland bei, dessen Partner-Höfe mit Fleisch aus artgerechter Tierhaltung werben. Seit 2008 gehört dazu, dass männliche Ferkel nur noch mit Betäubung kastriert werden dürfen. Seitdem muss Tierarzt Walter bei den Duensing-Knops anrücken, wenn eine Sau mal wieder ein Dutzend Ferkel geworfen hat. Den Einsatz von Narkosegas darf nämlich nur ein Veterinär übernehmen.
Schweinemast fürchtet hohe Kosten
Bernd Kuhn, bei Neuland Experte zum Thema Ferkelkastration, nennt es einen brutalen «Irrsinn», dass den Tieren in der konventionellen Mast die Hoden bei vollem Bewusstsein entfernt würden. Landwirte führten da in den Ställen einen qualvollen «operativen Eingriff» durch, von dem kaum ein Verbraucher an der Wursttheke etwas wisse, beklagt Kuhn. Bei Neuland findet derzeit auf 34 Sauenbetrieben die betäubte Kastration statt. Der Verein dringt auf einen flächendeckenden Einsatz - bundesweit.
Forum und Blog
Hier geht's zum Forum "Tiere im Revier"
Frei Schnauze! - Das Tier-Blog
In der konventionellen Schweinemast ist man dagegen und verweist vor allem auf den größeren Aufwand und die höheren Kosten, die die Kastration mit Betäubung verursacht. Es kostet Zeit und Geld, wenn ständig Tierärzte anrücken müssen, um Millionen von Tieren mit Betäubung zu kastrieren. Das mache das Schnitzel deutlich teuer, was beim Verbraucher aber gar nicht gut ankomme, sagt Heinrich Dierkes von der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) mit Sitz in Damme bei Osnabrück. Dierkes spricht für rund 12 000 Mitglieder.
Ferkel quieken unerträglich laut
Außerdem, so argumentiert Dierkes, sei es ohnehin fraglich, ob die Betäubung den Tieren die Kastration tatsächlich erträglicher mache. Denn die ganze Prozedur mit der Isofluran-Betäubung produziere eine Menge Stress, die man den Tieren erspare, wenn man direkt mit einem gekonnten Handgriff kastriere. Zudem würden die Ferkel wenige Tage nach der Geburt kastriert, betont Dierkes. In diesem Alter sei das Schmerzempfinden der Tiere noch nicht so ausgeprägt und die Wunde verheile sehr schnell.
Tierarzt Walter sieht das anders: Die Kastration mit dem Skalpell sei für die kleinen Ferkel «unbestritten ein großer viszeraler Schmerz». «Das ist die Meinung von mir und auch von vielen Wissenschaftlern», betont Walter.
Auch Bauer Duensing-Knop kann von einer Art wissenschaftlicher Untersuchung zum Thema Schmerz bei Schweinebabys berichten. Als er die Tiere noch selbst und ohne Betäubung kastrierte, brauchte er Ohrenschützer, weil die Ferkel so unerträglich laut quiekten. Dazu kam das Geschrei der Säue, sobald sie die Qualen ihres Nachwuchses mitbekamen. Seitdem Tierarzt Walter mit seiner Betäubungsmaschine zur Kastration vorbeikomme, brauche er die Ohrenschützer nicht mehr, sagt Duensing-Knop. (ddp)