Paris. . Früher hat Lucia Iraci in ihrem Salon den Damen der feinen Gesellschaft und Supermodels die Haare gemacht. Dann entschloss sich die Französin, in einem Ausländerghetto in Paris einen Salon zu eröffnen. In dem macht sie heute arme Frauen für drei Euro chic.

Marie-Christine schaut mit leuchtenden Augen in den großen Spiegel und ein schüchternes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. „Endlich mal wieder hübsch!“, sagt die Pariserin, Mitte 50, augenzwinkernd. Im Salon „Joséphine“ in der Rue de la Charbonnière gibt’s Schönheit zum absoluten Billigtarif. Waschen, Färben, Schneiden plus Gesichtspflege für gerade einmal drei Euro. „Joséphine“ ist der ungewöhnlichste Friseurladen der französischen Millionen-Metropole: ein „Sozial-Salon“ für arme Frauen.

Es ist nicht lange her, da stand Marie-Christine noch auf der Sonnenseite des Lebens: eine gut bezahlte Anwältin in einer Kanzlei im 1. Arrondissement, glücklich verheiratet, zwei erwachsene Kinder, Ur­laub am Mittelmeer. Wie aus heiterem Himmel stürzt sie ab und erlebt eine dramatische Bruchlandung. „Mein Mann verliebte sich in eine 20 Jahre Jüngere und ließ mich sitzen. Ich litt unter Depressionen, schluckte Tabletten“, erzählt sie. Als sie den seelischen Schmerz schließlich mit immer mehr Alkohol zu ertränken versuchte, setzte ihr Chef sie vor fünf Jahren vor die Tür. Seitdem lebt sie von Arbeitslosen-, mittlerweile von Sozialhilfe, knapp unter dem Existenzminimum.

Die Kundinnen des Salons „Joséphine“ teilen dasselbe Schicksal, sie leben in Armut. In einer Armut, die tausend verschiedene Gesichter hat. Isabelle, eine weitere Stammkundin, einst grazile Tänzerin, tourte in den 90er-Jahren mit der berühmten Compagnie von Maurice Béjart um die ganze Welt, heute lebt sie auf der Straße.

Armut ist grausam, weil sie hässliche Furchen in Gesichter schneidet und die Seelen anfrisst. Ein Teufelskreis, den Lucia Iraci, die Gründerin des Sozial-Salons, durchbrechen will. „Ich möchte den Frauen Schönheit geben, damit sie den Kopf heben und ihre Würde zurückgewinnen“, sagt die resolute Franko-Italienerin.

Früher legte sie wohlhabenden Kundinnen die Locken

Im eleganten Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés betreibt die Coiffeuse schon seit elf Jahren einen Salon, in dem sich eine durchweg wohlhabende Klientel die Locken legen lässt. Friseurin mit Herz – das war sie zuerst nur an ihren freien Tagen. „Jeden Montag hab ich mein Köfferchen geschnappt und bin raus in die Banlieue gefahren.“ Meistens frisierte sie in Teestuben der Sozialverbände, stets zum Nulltarif – „bis ich die Nase von der Fahrerei voll hatte und die Frauen in meinen feinen Salon holte“.

Vor einem halben Jahr schließlich verwirklichte Lucia Iraci ihren Traum: den Salon „Joséphine“. In einem Quartier, das zu den schwierigsten der sonst so eleganten Metropole zählt. Es ist ein buntes, lärmendes Ausländergetto – halb Maghreb, halb Afrika –, aber auch eines, in dem der Kokainhandel floriert und in dem sich eine Frau im Dunkeln besser nicht alleine auf die Straße trauen sollte.

Hélène frisierte 25 Jahre lang Supermodels

Drei Frauen versehen in dem Salon mit freundlich hellem Ambiente ihren Dienst: Hélène, die Friseurin, Anne, die Kosmetikerin und Koura, die Sozialarbeiterin. Hinzu kommen ein Dutzend „bénévoles“, Freiwillige, wie etwa Jadwiga, die selbst arbeitslos ist und die Rezeption übernimmt, oder der Paradiesvogel Olivier, der Friseur gelernt hat und nun Schauspieler ist.

Hélène hat 25 Jahre lang Supermodels wie Claudia Schiffer, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Carla Bruni oder Rockstars wie Mick Jagger frisiert. Bei „Joséphine“ ist sie mehr Psychologin als Haarkünstlerin, von Neurosen und Depressionen versteht sie genauso viel wie von Dauerwellen und Stufenschnitten. Neulich bediente sie einen besonders schweren „Fall“: eine Kundin, die sich schon seit zwei Jahren weigert, in den Spiegel zu schauen. Weil sie Angst vor der Wahrheit hat. „Sie will nicht sehen müssen, wie schäbig sie geworden ist“, sagt Hélène.

Das Spektrum an Reaktionen ist weit gefächert, wenn Frau aufhört, Aschenputtel zu sein. Die einen lassen leise dicke Tränen der Rührung über die Wangen rollen, während andere in Ekstase geraten. Einige bleiben sonderbar apathisch und verlassen den Salon, ohne auch nur ein einziges Wörtchen zu verlieren. „An solchen Tagen sage ich mir: Ich kann nicht mehr“, gesteht Hélène. Doch schon am nächsten Tag kommen Frauen, die zwar ihr ganzes Geld, aber nicht ihren Humor verloren haben. „Nicht wir sind es, die sie zum Lachen bringen, sondern sie uns.“

Die Frauen des „Joséphine“-­ Teams wissen, dass sie keine Wunder bewirken können. Ein schicker Haarschnitt, geschminkte Lippen und lackierte Nägel allein machen noch keinen neuen Menschen. „Wir wollen ihnen nur etwas Wärme geben und die Kraft aufzustehen“, sagen sie, „schlimmstenfalls geben wir nur Glück für einen Tag.“