Kempten. Es war eine Nacht voller Angst und Schrecken: Im Allgäu, nahe Schloss Neuschwanstein, sind 20 Touristen über 18 Stunden in einer Bergbahn gefangen gewesen. Ein Gleitschirm war in das Seil geflogen und hatte die Bahn zum Stillstand gebracht.

Eigentlich ein Traum. Diese Aussicht aus der Gondel auf das märchenhafte Schloss Neuschwanstein, eingebettet in die Bergwelt des Ostallgäus. Mitten in dem Panorama erleben 20 Menschen den großen Grusel: Die Touristen sind in der Bergbahn des Tegelbergs gefangen. Rund 100 Meter über dem Boden hängen sie fest. Einen halben Tag und eine ganze Nacht lang. Mehr als 18 Stunden sind sie auf engem Raum eingeschlossen – unter den Fahrgästen ist auch eine Familie aus Recklinghausen. Ein 49-jähriger Mann, seine 43-jährige Frau und die zehnjährige Tochter.

Das Kind gehört am Samstagvormittag zu den ersten Insassen, die aus dem Gefängnis in schwindelerregender Höhe befreit werden. Unverletzt, aber von den bangen Stunden sichtlich mitgenommen, so wie alle anderen auch.

Zwei Rettungshubschrauber wechseln sich ab. Sie halten in der Luft und lassen zwei Seile über eine geöffnete Luke hinunter in das Innere der Bergbahn. Nach und nach werden die 20 Gefangenen in Sicherheitsgurte geschnallt und aus der Gondel in die Hubschrauber gezogen. „Das war auch für die Helfer eine Extremsituation“, sagt Roland Ampenberger von der Bergwacht Bayern. Der 39-Jährige ist selbst in der Unglücksnacht draußen, um bei dem Einsatz zu helfen.

Das Drama am Berg beginnt am Freitagmittag. Ein Gleitschirm mit Fahrer und Beifahrer verheddert sich während des Flugs im Tragseil der Bahn. Die Polizei ermittelt inzwischen wegen fahrlässiger Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr. Der Gleitschirm ist im Auftrag des Fernsehens unterwegs. Eine Sprecherin des Bayerischen Rundfunks bestätigt später gegenüber dieser Zeitung: „Das Tandem-Gespann war für unsere Abendschau im Einsatz. Wir haben eine Urlaubsserie gedreht.“ Ein weiterer Gleitschirm mit einer Kamerafrau soll kurz nach dem Unglücksflieger starten, doch er wird gestoppt. Vorwürfe, der Pilot des verunglückten Gleitschirms habe sich risikofreudig der Gondel genähert, um spektakuläre Bilder zu bekommen, weist die Sprecherin zurück: „Er wollte gar nicht über die Seilbahn fliegen, sondern in die andere Richtung. Vieles spricht für eine Windböe.“

Die Gleitschirmbesatzung kann zügig gerettet werden. Ebenso 30 Fahrgäste, die in einer zweiten Gondel unterwegs sind. Für die Insassen der oberen Gondel, die auf dem Weg ins Tal ist, als das Laufwerk stoppt, wird die Seilbahnfahrt zu einer Tortur. 20 Menschen, eingepfercht in ein zwölf Quadratmeter kleines Gefängnis, das durch den Wind am Berg hin- und hergeschaukelt wird. Neben dem zehnjährigen Mädchen aus Recklinghausen sind noch drei weitere Kinder in der Gondel.

Laut der bayerischen Polizei lassen die Windverhältnisse keine schnelle Rettung zu. Ein Hubschraubereinsatz am Tag des Unglücks scheint zu riskant. Aber man unternimmt alles, um eine Panik in der Gondel zu vermeiden. Über Funk wird durchgehend Kontakt zu den Eingeschlossenen gehalten: „Das alles war eine Glanzleistung der Bergwacht“, sagt Polizeisprecher Alexander Resch. Ein Retter seilt sich in einer waghalsigen Aktion in der Nacht in die Gondel ab. Auf seinem Rüc­ken ein Riesenrucksack mit Trockenobst, Getränken und Mal-Utensilien für die Kinder. Ein Loch im Boden der Seilbahn dient den Eingeschlossenen als Not-Toilette. Die Bahn ist für 40 Personen ausgelegt, es bleibt also Platz, so dass sich die Wartenden zwischendurch etwas hinlegen können, bis sie endlich erlöst werden.

Laut Polizei geht es allen Geretteten gut. Die meisten setzen ihren Urlaub in Bayern fort.