Ruhrgebiet. .

Die Gruppe ist klein geworden. Zusammengeschrumpft auf 30 Unerschütterliche, die sich nachts um halb drei durch schlafende Siedlungen schlängeln. Sie sind unterwegs zum Bottroper Tetraeder, unterwegs im Zeichen der Haldensaga. Unterwegs zu den künstlerischen Zeugen des Ruhrgebiets, die nachts einen ganz besonderen Charme entwickeln. Eine Horde gelb-grüner Regenponchos vor ihrem letzten Aufstieg, äußerlich kaum noch zu unterscheiden und vereint im Trotz. Trotz des Regens, trotz der Kälte und obwohl jeder von ihnen weiß, dass in gut drei Stunden kein erhebender Sonnenaufgang zu erwarten ist.

Es sind 30 von insgesamt etwa 550 Nachtwanderern, die acht Halden des Ruhrgebiets erwandern und dazu schon um sechs Uhr morgens gestartet sind. Los ging es zwölf Stunden vorher bei der Haldensaga zwischen Neukirchen-Vluyn und Bergkamen mit 3500 Teilnehmern. 12 000 hatten die Veranstalter der Ruhr.2010 erwartet.

Endlich ist das Ziel erreicht, der Tetraeder ist in Sicht. 30 Regenponchos suchen Platz in den Pfadfinderzelten zwischen anderen nassen und müden Wanderern. Eine Stunde noch bis zur Abschluss-Vorführung. Die Hamburger Künstlergruppe Ligna hat für die Haldensaga eines ihrer bekannten Radioballette entwickelt. Es sind nur noch zwanzig Hartgesottene, die vor dem Tetraeder in Sturm und Regen mit Lignas Knopf im Ohr die nicht aufgehen wollende Sonne begrüßen – ein traurig-absurdes Bild.

Vom Sumpfgebiet zur Tourismus-Metropole

Acht Stunden vorher sah das anders aus, beim erahnbaren Sonnenuntergang auf der noch trockenen Bottroper Halde Haniel. Gemeinsam dem Untergang der Sonne applaudiert, gemeinsam getanzt, gemeinsam gefroren – so kommt man durch die Nacht.

Zwölf Stunden später lässt sich sagen, es war auch eine Wanderung gegen sich selbst und die eigene Bequemlichkeit. Wie schön wäre es mit Sonne und Sternen, Wärme und Weitblick gewesen…

Aber nein. So zimperlich denkt weder der Wanderer noch eine Pfadfinderin wie Guide Melanie. Die hält ihre Regenponcho-Herde motivierend zusammen. In den Zelten wird auf den paar Bänken eben enger zusammengerückt. Jemand hat auch Wein mitgebracht. Dixie-Klos wurden auf jede Halde gekarrt. Zur vitaminreichen Stärkung gibt es Äpfel und gegen Blasen Pflaster mit Landmarkenmotiven. Events organisieren und improvisieren – das kann die Ruhr.2010.

Und Alois Banneyer kann das auch. Er ist einer von 90 Nachtdozenten, die am Wegesrand ihre Geschichte vom Ruhrgebiet erzählen. Für Banneyer ist es die Zerrissenheit zwischen Fußball und Kulturveranstaltung. Sein Trick an diesem Abend: Er wandert nicht mit, sondern doziert. Da konnte er später los und vorher noch das Derby Schalke gegen Dortmund im sehen. Und Stefan Haas wechselt vom Sternenhimmel- zum Geschichte-Erzähler, erklärt kurz und bündig Bottrops Wandel vom Sumpfgebiet zur Massentourismus-Metropole.

Schöne Aussicht

So verbinden sich Geschichte und Geschichten, Bewegung und Begegnung. Nur die schöne Aussicht, die fehlte. Ligna hat sie akustisch heraufbeschworen: „Träumen Sie mit offenen Augen“. Das sollte möglich sein im Ruhrgebiet.