Essen.
Das Jahrzehnt von 2001 bis 2011 ist das Jahrzehnt Harry Potters. Und es ist das Jahrzehnt, in dem mein Sohn erwachsen wurde. Jetzt ist er 17. Genauso alt wie Harry in den „Heiligtümern des Todes, Teil 2“, seinem letzten Film, der am Donnerstag in die Kinos kommt. Millionen Fans werden ihn sehen, wenn sie nicht schon in einem der vielen Previews waren, die bereits gelaufen sind. Sie werden Abschied nehmen von einem Jungen, der durch die Zauberei der Maskenbildner schließlich so alt sein wird wie die eigenen Eltern. Die mussten sich, als das Potter-Fieber damals ausbrach, entscheiden: ignorieren oder mitmachen.
Ich habe mitgemacht, weil ich fantastische Geschichten mag, weil ich entzückt war, dass mein Sohn stundenlang zuhörte, wenn ich ihm vorlas, weil ich mich freute, als er sich selbst durch die ersten beiden Wälzer quälte und den Namen „Dschoän Key Wrouling“ fehlerfrei aussprechen konnte.
Gigantische Überraschungseier
Harry, Ron und Hermine waren immer mehr als nur Buchfiguren. Jeder neue Roman, jeder Filmstart war wie ein gigantisches Überraschungsei, Spannung, Spiel und Schokolade, und so süß, wie es begann, so aufregend ging es von Mal zu Mal weiter – so wie mit dem eigenen Kind. Wir rangen um unsere Lieblingsfigur, ich stets auf Seiten der Streberin Hermine, Marius auf der des kumpelhaften Ron, derweil Harry, die Lichtgestalt, irgendwo über den Dingen schwebte.
Beim „Stein der Weisen“ – Filmstart war am 22. November 2001 – standen wir, Väter, Mütter und Dutzende Knirpse, in einer langen Schlange vor der Essener Lichtburg. Kurz zuvor hatten wir das Buch gekauft, ich hatte es ruckzuck durch. Na ja. Viel Hokuspokus. Niedliche Figuren. Ein Kinderbuch eben. Über den Film waren die meisten Kritiker begeistert. Nettes Popcorn-Kino, vielleicht ein bisschen zu spannend für Grundschulkinder, fand ich. Karneval 2002 ging Marius als Harry Potter zum Rosenmontagszug, wo er viele andere Harry Potters traf.
Fliegende Holzstöcke im Kinderzimmer
Ab Teil 3, „Der Gefangene von Askaban“, gingen wir nicht mehr allein ins Kino, sondern mit einer befreundeten Familie. Die Kinder kannten sich aus dem Hort, potterfest waren sie alle. Seit Monaten flogen Holzstöcke durchs Zimmer, als Zauberstäbe, dauernd rief einer „Expelliarmus“ – den Entwaffnungszauber. Dass die Kinder sich Zickzack-Narben auf die Stirn malten, war eine Sache, dass sie sich aus dem Fenster abseilten, weil das mit dem Disapparieren nicht klappte, eine andere. Die Wohnung war ebenerdig.
„Der Gefangene von Askaban“ war kein Kinderfilm mehr, Regisseur Alfonso Cuaron inszenierte ein Jugenddrama. Der größte Zauber, der den Harry-Potter-Filmen von da an gelang, war es, Liebe und Freundschaft als treibende Kraft gegen das Böse in den Mittelpunkt zu rücken, ohne in Kitsch abzugleiten. Die zunehmend spröden und kantigen Kinder registrierten das ganz genau.
Neues Buch, neuer Film, DVD-Neuerscheinungen. Wir veranstalteten „Harry-Potter-Nächte“ und versuchten, Filmfehler herauszufinden. Zum Beispiel: Warum zaubert Harry Potter sich bei den Muggel-Dursleys mit „Lumos“ Licht ins Zimmer, obwohl er das als Minderjähriger nicht darf?
Harry Potter als Kommunikationshilfe
Klar, auch wir wurden Teil der gigantischen Gelddruckmaschine. Joanne K. Rowling hat 500 Millionen Bücher verkauft, die HP-Filme spielten Milliarden Euro weltweit ein. Unser Beitrag nebst Büchern, Kinokarten und Popcorn war allerlei Schnickschnack: Plastikeulen, Phönixfiguren, Portemonnaies mit dem Gryffindor-Wappen. Zweimal standen wir um Mitternacht im Buchladen, um den gerade gelieferten neuen Potter-Band in Empfang zu nehmen. Die Kinder schliefen auf den Stühlen.
Das Geld war’s wert. Über Harry Potter sind wir im Dialog geblieben, zu Zeiten, als mein Sohn auf der Straße nicht mehr neben mir hergehen wollte. Ins Kino gingen wir immer noch gemeinsam. Mit zwölf nannte Marius Hermine nicht mehr „Streberin“, sondern lud sich die Fotos der Schauspielerin Emma Watson auf den Computer.
Englisch mit dänischen Untertiteln
Harry-Potter-Premiere
Auch die Mädels bekamen große Augen, als sich Harry Potter beim „Feuerkelch“ halbnackt in einem Bassin mit der maulenden Myrte käbbelt. Die Jungs räkelten sich selbstgefällig in den Kinosesseln, fünf Reihen vor uns. Diskussionen entbrannten noch beim Gang über den klebrigen Teppich, ob denn Cho Chang „die Richtige“ für Harry sei.
Teil 5, „Der Orden des Phönix“, lief im Sommer 2007. Wir waren in Dänemark im Urlaub, ganz oben im Norden. Doch auch am Allerwertesten der Welt gibt es ein Kino. Am 14. Juli um 17.30 Uhr betraten wir ein altes, kleines, stickiges Filmtheater mit Bonbonnieren auf dem Gang, Troddeln an den Vorhängen - das „Palads“ in Frederikshavn. Harry Potter sprach Englisch mit dänischen Untertiteln. Es war eine der schönsten Vorstellungen.
Eine ganze Nacht, in der die Sonne nicht richtig unterging, haben wir im Wohnwagen am Strand geredet. Über Ausgrenzung, Rassismus, die „Todesser“ als Geheimpolizei, über Dolores Umbridge, die bösartige Biederfrau in Rosa, die aus Hogwarts ein Straflager macht. „Ich glaube, ich werde Schlagzeuger“, sagte mein Sohn schließlich, bevor er sich schlafen legte.
Große Potter-Fans
Vor einem halben Jahr im Kino, bei den „Heiligtümern des Todes 1“, konnte man sehen, wie groß die Potter-Fans geworden sind. So groß wie die eigenen Kinder, die längst wieder neben uns sitzen. Und wir waren froh, sie wohlbehalten und sicher zu wissen, derweil Harry, Ron, Hermine und die anderen Guten sich aufmachen in die letzte Schlacht gegen den Dunklen Lord.
Das Ende haben wir in der Lichtburg gefeiert, da, wo alles begann. Balkon, Loge, fünf Plätze, 3-D-Brille inklusive. Zuvor haben wir wehmütig mit Champagner angestoßen, wahlweise Radler. Butterbier wäre besser gewesen, aber bis heute wissen wir nicht, was das überhaupt ist.
Tschüss, Harry, du warst uns ein guter Freund!