Lingen. . In Lingen am Fuße des Atomkraftwerks „Emsland“ gehen die Meinungen über den Ausstieg in elf Jahren weit auseinander
Wenn du von der A 31 nach Osten Richtung Lingen abfährst, sind die großen Kühltürme der Kraftwerke schon von Weitem zu sehen. Der Wasserdampf steigt blumenkohlförmig in den Himmel, vermischt sich mit den Wolken und zieht davon. Beate Schulte (42) kommt jeden Tag auf dem Weg zu ihrem Laden in der Stadt daran vorbei: „Als meine Kinder kleiner waren, haben sie gedacht, die Türme seien die große Wolkenmaschine. Na ja, wir mussten ja irgendwie damit leben, im Schatten eines Atomkraftwerk zu wohnen.“
Beate Schulte ist Floristenmeisterin und glücklich, dass im Jahre 2022 das Kernkraftwerk „Emsland“ vor der Haustür als vermutlich letzte Anlage in Deutschland vom Netz gehen wird. „Früher hat mich das nicht so interessiert, ich war als Schülerin sogar mal da drin zur Besichtigung. Wie gesagt, man hatte sich arrangiert. Aber vor einigen Jahren hat mir eine Kollegin aus der Nachbarschaft erzählt, dass eines ihrer Kinder an Krebs gestorben, ein zweites erkrankt ist. Die Frau sah das AKW als Auslöser. Das hat mich nie losgelassen.“
Lingen hat 1000 Jahre Geschichte und rund 50 000 Einwohner. Solche Städte sind oft gelassen. Ein Mann fährt vor und parkt im Verbot. Die Politesse schreibt kein Knöllchen, sondern ermahnt ihn freundlich. Und auch das Thema „Ausstieg“ wird mit gewisser Grundruhe behandelt. Auf dem Markt verkauft Heinrich Brink wie eh und je Kartoffeln. „Ich wohne direkt neben dem Kraftwerk. Stört mich nicht. Von mir aus könnte das noch Jahre laufen.“ Der 79-Jährige unterbricht, weil eine Kundin „ein Pfund Toffeln“ verlangt, wie man hier sagt. Er kassiert und sagt: „Klar hat Japan mich geschockt, aber wir sind doch kein Erdbebengebiet. Und solange der Franzose nicht abstellt, ist das doch sinnlos.“
„Ist es nicht.“ August Rolfes (63) ist mit seiner Frau Margret zum Einkaufen gekommen. „Einer muss anfangen. Wir sind seit Tschernobyl gegen Kernkraft.“ Margret fügt an: „Weil ja auch die Entsorgung des Atommülls noch immer nicht geklärt ist.“ Die beiden kennen viele Argumente, auch die der Gegenseite. „Unser Nachbar arbeitet im Kraftwerk.“ Da geht’s auch beim Grillfest schon mal ums heiße Eisen. „Viele unserer Freunde im Kraftwerk sind aber über 50. Die können sich ja noch in die Rente retten.“
Die Lager von Pro und Contra sind erst seit Fukushima etwa gleich groß. Zuvor waren die Befürworter klar in der Mehrheit. Dieter Krone (parteilos) will Oberbürgermeister aller sein: „Insgesamt ist der Ausstieg schon positiv, aber nur, weil wir eben noch elf Jahre Planungssicherheit haben. Gespräche mit RWE sind angelaufen.“ Es gilt, langfristig 320 Arbeitsplätze zu ersetzen.
Der Vorteil der Stadt: Die Arbeitslosigkeit liegt bei drei Prozent, diesseits aller Sorgen, dazu Arbeitgeber wie die Pipeline-Firma Rosen, die schon 600 Leute hat und Facharbeiter mit Kusshand übernimmt. Außerdem hat die Stadt schon andere Gewichte gestemmt. Lingen war mal ein großes Eisenbahnausbesserungswerk, hier wurde Dampfloks der Kessel geflickt. Jede dritte Familie in der Stadt lebte davon. Dann kam der Krieg mit Bomben und die Technik mit E-Loks. Das Werk machte in den 80ern dicht.
Noch immer stehen die alten Hallen, aufgemöbelt sind sie und auf Zukunft getrimmt. Agenturen, Firmen, Cafes, Geschäfte, ein Radiosender sind schon da, noch mehr Studenten kommen bald dazu. Lingen ist Hochschulsitz, Theaterpädagogik etwa wird hier gelehrt. Ganz passend liegt vor den Gebäuden der Theo-Lingen-Platz, der Komiker (1903 bis 1978) ist kein Sohn der Stadt, eher ein Enkel. Als Theo Schmitz geboren, kam er bei der Suche nach einem Künstlernamen auf den Geburtsort des Vaters, Lingen eben.
Einige Kilometer die Ems lang nach Süden steht der Meiler und macht Wolken. Die Kneipe „Elberger Schlipse“ lädt Ausflügler zu Weizen und Torte. Der junge Wirt Sebastian ist ein bisschen nervös. „Die Leute vom Kraftwerk kommen mal abends und trinken ein Bier. Ihr Fortbleiben würde ich schon merken. Aber es ist ja noch lange hin.“ Und andere Gäste gibt’s ja auch. Werner Biesemann steht mit seinem Wohnmobil auf der Wiese gleich nebenan. „Hier kann ich prima nah am Wasser campen.“ Dann schnappt sich der Rentner aus Essen seine Angel und geht im Schatten des Kühlturms auf Karpfen und Rotauge. „Warum nicht.“ Ganz entspannt.