Berlin. Die meisten älteren Menschen werden immer noch zu Hause von Angehörigen versorgt, in der Regel von Frauen. Diese sind mit der schweren Aufgabe, vor allem wenn sie Jahre dauert, oft überfordert. Hass und Gewalt gegen den Gepflegten können die Folge sein.

„Warum stirbt sie nicht? Ich kann nicht mehr.“ Die Anruferin ist mit den Nerven am Ende. Sie pflegt ihre alte Mutter, seit Jahren. Auch die nächste Anruferin ist verzweifelt: „Manchmal haue ich sie mit den Waschlappen.“ Später meldet sich eine Frau, die zwar noch Kraft hat, aber tieftraurig klingt: „Ich bin rund um die Uhr für sie da, aber mein eigenes Leben geht an mir vorbei.“

Pflege ist weiblich. 80 Prozent der Menschen, die die Nummer des Berliner Krisentelefons von „Pflege in Not“ anrufen, sind Frauen. Sie melden sich aus dem ganzen Bundesgebiet, weil in vielen Regionen ein solches Angebot fehlt. Viele rufen an, weil sie nicht weiter wissen. Weil sie Seiten an sich entdecken, die sie nicht kannten: Hass auf den Menschen, dem sie versprochen haben, sie würden ihm bis zum Lebensende beistehen. Hass auf die hochbetagte Mutter, auf den dementen Vater, bei Älteren auch auf den pflegebedürftigen Ehepartner. Oft rufen sie an, weil aus dem Hass Gewalt geworden ist.

Zehn Jahre dauert die durchschnittliche Pflegezeit in Deutschland. „Wenn ich das vorher gewusst hätte...“ – der Satz fällt in vielen dieser Telefonate. Die körperliche Belastung, einen Menschen zu Hause zu pflegen – das ist das eine. Das andere ist der psychische Druck. Sei wachsam und geduldig, sanft und freundlich, raste nicht aus. „Viele haben ihren Angehörigen versprochen, dass sie niemals ins Pflegeheim müssen“, sagt Gabriele Tammen-Parr von „Pflege in Not“, einer Einrichtung der Diakonie. „Sie empfinden das als Auftrag, auch wenn sie das gar nicht schaffen können.“ Andere Angehörige haben einen Satz im Ohr, den der Vater oder die Mutter irgendwann vor Jahren gesagt hat: „Ich möchte mal zu Hause sterben.“ Auch das kann zu einem Auftrag werden.

Angst, Scham, Sprachlosigkeit

Schlechte Chancen auf gewaltfreie Pflege haben Angehörige, wenn das Verhältnis vor der Pflegesituation bereits kritisch war. Eine Anruferin, die ihren Mann als lieblos und karg beschreibt, beklagt sich: „Ich habe so wenig von ihm bekommen und soll nun wieder geben und geben. Ich habe eine solche Wut.“

Die Opfer selbst wählen nur in seltenen Fällen die Nummer des Berliner Krisentelefons. Das hat viele Gründe. Angst, Scham, Sprachlosigkeit – das ist die eine Seite. Der Bonner Gerontopsychiater Rolf-Dieter Hirsch vermutet allerdings, dass betagte Gewaltopfer oft schlechte Erfahrungen mit Hilferufen gemacht hätten. Hausärzte, Pflegedienste und Betreuungsgerichte seien oft nicht ausreichend für die Nöte alter Menschen sensibilisiert.

Notrufe für Pflegende, die Hilfe brauchen

In einem Pilotprojekt der Polizeihochschule Münster werden deshalb gerade Mitarbeiter von sechs ambulanten Essener Pflegediensten geschult. Sie erleben die Angehörigen im Alltag – und bekommen so am ehesten Übergriffe mit. „Und dann?“ Projektleiter Thomas Görgen hat die Frage oft gehört. Viele Pflegekräfte fühlen sich unsicher, sie wollen schließlich nicht wegen falscher Anschuldigungen angezeigt werden. Doch niemand soll gleich mit seinem Verdacht zur Polizei gehen. Es gibt stattdessen eine „Landkarte der Unterstützer“ – eine Liste mit Beratungsstellen. Die beste Lösung, sagt Görgen, „wäre ein zentrales Pflege-Nottelefon wie in Schleswig-Holstein“.

Pflegende, die Hilfe suchen, können sich an die folgenden Notrufe wenden: die Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter ( 0228/69 68 68) sowie die Initiative gegen Gewalt im Alter in Siegen ( 0271/660 97 87). Auch Opfer von häuslicher Gewalt finden hier Ansprechpartner.