Tokio. Viele Japaner schwanken nach der Katastrophe von Fukushima zwischen Ablehnung der Atomkraft und Frucht vor Energieengpässen. Zersplitterte und schwache Anti-Atomkraftbewegung hofft auf neuen Zuspruch

Tepco – einst der größte Stromkonzern der Welt, jetzt steht er kurz vor dem Bankrott. Im Hauptquartier des japanischen Atomkraftwerkbetreibers verkündete die Führungsriege mitten in der Krise von Fukushima recht ungerührt: Vier der sechs Reaktoren von Fukushima müssten verschrottet werden, aber zwei Anlagen wolle man bald wieder in Betrieb nehmen. Vor dem Eingang demonstrierten derweil in paar Hundert Japaner gegen den Konzern und die Atomstrompolitik der Regierung.

Die AKW-Bosse mögen geglaubt haben, sie könnten nach dem GAU von Fukushima weitermachen wie bisher. Für Toshihiro Inoue vom „Japan Kongress gegen Atom- und Wasserstoffbomben“ stellte der Tag trotz der offenkundigen Scheuklappen beim Tepco-Manager ein ungewohntes Erfolgserlebnis dar. „Früher kamen ein paar Dutzend Leute zu unseren Protesten, jetzt hatten wir ein paar Hundert Teilnehmer“, freute sich der Atomkraftgegner.

Doch die Kunde von der Demonstration schaffte es nicht weit. In den Medien der japanischen Hauptstadt wurde der Protest einen Tag später nicht einmal erwähnt und in Tokios Vorort Edogawa hatten fünf Mitglieder der lokalen „Kenpo Wo Yomukai“, der Verfassungstudiengruppe, am Mittwochnachmittag nicht einmal von der geplanten Demonstration erfahren. Dabei beschäftigt sich die kleine Truppe von fünf Rentnern seit dem Erdbeben, dem Tsunami und dem Fukushima-Reaktorunfall nur noch mit den Risiken der Atomkraft.

Im Büro des Rechtsanwalts Atsushi Suzuki studiert das Quintett normalerweise die japanische Verfassung und sucht nach Verbesserungsmöglichkeiten. Seit dem 11. März interessieren sich die Rentner vor allem für Kinderkrebsstatistiken aus der Umgebung deutscher Atomkraftwerke. Sie informieren sich über Leukämiegefahr und Langzeitfolgen von radioaktiver Strahlung.

Stadtteilaktivisten freuen sich über mehr Zuhörer

Die Stadteilaktivisten sind wie viele andere ältere Leute in aller Welt überzeugt, dass die junge Generation sich nicht genug für gesellschaftliche Themen und Politik interessieren würde. Und sie freuen sich, dass bei ihrer letzten Veranstaltung mit dem Umweltaktivisten Yu Tanaka immerhin 70 Zuhörer statt der sonst üblichen 20 Teilnehmer erschienen, um sich ein Bild über die Energiepolitik Japans zu machen.

„Früher haben meine Nachbarn immer über mich gelächelt“, erzählt die 60-jährige Hausfrau Tamaki Keiko, die vor zehn Jahren zur Atomkraftgegnerin wurde, nachdem sie einen Dokumentarfilm über die Überlebenden der Atombombe von Hiroshima und Nagasaki gesehen hatte, „heute hören sie mir wenigstens zu.“ Tamaki Keiko versucht, mit einem Blog für die Sache der Atomkraftgegner zu trommeln. Aber sie gesteht auch freimütig, dass sie sich früher nicht besonders von ihren Landsleuten unterschied. „Ich hatte drei Kinder aufzuziehen, da blieb keine Zeit für politischen Aktivismus.“

Dabei hat Japan eine lange Geschichte im Kampf gegen den Atomtod. Die Hibakusha, die Überlebenden der Atombomben, gründeten eine Interessengruppe, der heute in vielen Städten des Landes mit Denkmälern gedacht wird - an ziemlich versteckten und unauffälligen Plätzen. Die Hausfrauenbewegung von Suginami, einem als besonders liberal und widerspenstig geltenden Stadtteil Tokios, genießt Legendenstatus, weil sie in den 50er Jahren auf den Straßen gegen Atomwaffen protestierte.

Umweltbewusstes Verhalten für Energiewende

Doch heutzutage geht es der Atomkraftbewegung so ähnlich wie den Bürgern Tokios, die versuchen, mit umweltbewusstem Verhalten ihren Teil zu einer Energiewende des Landes beizutragen. „Von 27 Bruchteilen des Müll in der Hauptstadt stammt ein Bruchteil aus privaten Haushalten“, rechnet der Umweltaktivist Yu Tanaka vor, „die anderen 26 gehen auf das Konto von Unternehmen. Mit dem Energieverbrauch verhält es sich ähnlich.“

Das Beispiel soll zeigen, wie gewichtig die Stimme der Wirtschaft ist - und welch geringe Bedeutung das Verhalten und Forderungen der Bürger haben. Diese Erfahrung musste vor vier Jahrzehnten auch ein Teil der Bewohner von Futaba machen, dem Städtchen im Schatten des Atomkraftwerks Fukushima. Der Bau der Anlage vor mehreren Jahrzehnten war umstritten. „Es gab eine Protestbewegung bei uns“, erinnert sich der 45-jährige Postbeamte Takaaki Sugamoto aus dem Städtchen Futaba im Schatten der Reaktoren, „aber die hatte keine Chance.“ Japans Gesetze garantieren den Erbauern von Energiekraftwerken die 3,5fachen Einnahmen der Baukosten. Deshalb konnte Tepco sich in Fukushima den Bau von Kindergärten, Parks und schönen Sportanlagen leisten, mit denen der anfängliche Widerstand überwunden wurde.

Der 63-jährige Yoshitake Obata, der bis zu seiner Pensionierung Gewerkschaftsfunktionär war und jetzt bei der Verfassungsstudiengruppe von Edogawa mitmacht, nennt weitere Gründe für den Zerfall des lokalen Widerstands gegen Atomkraftwerke: „Tepco und andere Stromkonzerne vergeben schon beim Bau zahlreiche Aufträge an Subunternehmer, die ihre Arbeiter in der Umgebung rekrutieren.“ Aus Firmen von Subunternehmen stammen in diesen Tagen auch viele der 450 Arbeiter, die nach mehr oder weniger massivem Druck von Tepco gegenwärtig im Atomkraftwerk versuchen, die Reaktoren wieder unter Kontrolle zu bringen - bei einem Tageslohn von bis zu 400 000 Yen (rund 3400 Euro), so berichtet jedenfalls Japans lokale Presse.

Wo soll die Energie herkommen?

Das Resultat, glaubt Obata, ist eine Art Okinawa-Effekt: Wie die Bewohner der Insel im Süden Japans gerne den Abzug der dort stationierten US-Truppen sehen würden, aber von den Arbeitsplätzen im Stützpunkt abhängen, so folgen viele Japaner auch der bisherigen Regierungsbehauptung, ohne Atomkraftwerke würde der Strom ausfallen. „Wo soll die Energie herkommen, wenn wir keine Atomkraftwerke haben“, fragt auch der 39-jährige Tomohiro Tanaka, der Futaba wegen des GAU verlassen musste und jetzt samt Eltern von einem Notlager zum nächsten zieht.

Aber die Katastrophe von Fukushima zeigt ihre Wirkung. Selbst der Abgeordnete Taketsuha Kimura von der regierenden Demokratischen Partei gibt zu: „Die Zeit zum Umdenken ist gekommen.“ Noch scheint er sich aber in einer Minderheitsposition zu befinden. Japans Regierung ließ trotz der Nuklearkrise bislang nicht erkennen, ob sie bereit ist, den geplanten Bau von 14 weiteren Atomkraftwerken in den kommenden 20 Jahren zu überdenken.

Vielleicht wird ihr aber auch nichts anderes übrig bleiben. Die 29-jährige Mutter Sayaka Kobayashi, Mutter von zwei kleinen Kindern, sagt etwa: „Ich war eigentlich schon immer gegen die Nutzung von Atomkraft. Aber wenn mich jetzt jemand fragen würde, wäre ich zum ersten Mal bereit, auch eine entsprechende Petition zu unterschreiben.“

Junge Japaner gehen nicht gerne auf die Straße

Das mag nicht besonders gewagt erscheinen. Doch für viele Japaner bedeutet eine solche Entscheidung ein großer Schritt. „Wir sind anders als beispielsweise die jungen Leute in Südkorea“, sagt die 31-jährige Mifumi Obata, die Tochter des alten Gewerkschaftsfunktionärs Yoshitake Obata, „wir jungen Japaner gehen nicht gerne für eine Sache auf die Straße.“

Vielleicht gibt aber auch der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe den Impuls zum Umdenken. „Wir müssen die Geschichte Japans durch die Linse von drei Ereignissen betrachten“, forderte er in einer Kolumne nach der Fukushima-GAU, „ersten den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, zweitens dem Tod der Japaner beim Atombombentest auf den Bikini-Insel und drittens dem Reaktorunfall von Fukushima.“ Er kündigte außerdem an: „Wenn ich den gegenwärtigen Wahnsinn überlebe, werde ich meinen ersten Roman mit dem Schlusssatz von Dantes Inferno beginnen: Und dann kamen wir heraus, um die Sterne noch einmal zu betrachten.“