Essen. Immer wieder habe er um die Liebe des Vaters gekämpft – vergeblich. Walter Kohl erzählt in seinem Buch auf berührende Weise von einer Beziehung zum Vater, die nicht stattgefunden hat. Als Kohl geheiratet hat, lag nur ein Telegramm im Briefkasten.
Wenn Helmut Kohl von der europäischen Einigung schwärmte, erzählte er manchmal eine Familiengeschichte: Der Bruder seiner Mutter habe Walter geheißen. Er fiel im Ersten Weltkrieg.
In Gedenken an ihn nannte Kohls Mutter einen Sohn Walter – Helmut Kohls Bruder, der im Zweiten Weltkrieg starb. „Auch mein Sohn heißt Walter“, pflegte Kohl zu enden, „und er lebt.“ Für Kohl eine Metapher auf die Überwindung von Krieg und Gewalt im vereinten Europa.
Doch wer diese Geschichte als Hinweis auf eine enge Beziehung Kohls zu seinem Sohn liest, sieht sich nun getäuscht. „Mein Vater hat sich inzwischen vollständig von mir losgesagt. Auf meine direkte Frage: ,Willst du die Trennung?’, antwortete er mir knapp mit ,Ja!’.“ Dies schreibt eben jener Walter Kohl, heute 47 Jahre alt, in seinem Buch „Leben oder gelebt werden“.
Das Buch liest sich nicht als „Abrechnung“ mit einem Übervater, wie manche Medien vorschnell titelten. Vielmehr breitet Walter Kohl auf gut 270 Seiten die Geschichte einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung aus. Mal melancholisch, mal bitter und oft anrührend erzählt er von einer Verbindung, die im Grunde nie eine war. „Jeder Junge wünscht sich einen Vater, der auch für ihn da ist. Ich habe es nicht geschafft, meinen Vater zu erreichen.“ Diese „Grundaufstellung“ sei bis heute „unverändert geblieben“.
Der kleine Sohn, so Walter Kohl, lebte im „Schatten eines großen Mannes“, der als viel beschäftigter Politiker lediglich „Gast in unserem Haus“ war und nur „immer irgendwie auf leisen Sohlen“ nach Hause kam, wenn denn überhaupt. Denn: „Für meinen Vater war und ist die Politik seine eigentliche Heimat. Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl.“
Selbst an Suizid gedacht
Bedrückend, ja beklemmend berichtet Kohl, wie er im Juli 2001 vom Tod seiner Mutter erfuhr. Hannelore Kohl, die jahrelang unter einer seltenen und schweren Form von Lichtallergie litt, hatte im Haus der Kohls in Ludwigsha-fen Suizid begangen. Die schreckliche Nachricht von ihrem Tod erreichte den Sohn per Telefon – nicht etwa vom Vater, sondern von dessen Büroleiterin Juliana Weber. Walter Kohl dachte danach selbst an Suizid: „Mental hatte ich resigniert und war bereit, mich aufzugeben.“ Doch er fand ins Leben zurück – auch ohne den Beistand des Vaters.
Auch als der Altkanzler sieben Jahre nach dem Tod von Hannelore Kohl erneut heiratete, blieb Sohn außen vor. Er fand im Briefkasten ein Telegramm („Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gab“) mit der kurzen Nachricht: „Heidelberg, 8. Mai 2008. Wir haben geheiratet. Wir sind sehr glücklich. Maike Kohl-Richter und Helmut Kohl.“ Einzelheiten erfuhr Walter Kohl erst tags drauf – aus der „Bild“-Zeitung. Deren Chefredakteur hatte „praktischerweise als Trauzeuge fungiert“. Die Verbitterung des Kohl-Sohns ist an solchen Stellen unüberhörbar.
Jahrzehntelang hat er auf Gespräch gehofft
Aber „Leben oder gelebt werden“ ist mehr als ein persönliches Buch. Es gewährt auch kleine Einblicke in die bundesdeutsche Geschichte. Etwa wenn Walter Kohl aus den Jahren des RAF-Terrors oder der Spendenaffäre um seinen Vater berichtet.
Walter Kohl, heute ein beruflich erfolgreicher Diplom-Volkswirt, tritt nicht nach. Er analysiert und resummiert. „Jahrzehntelang“, so schreibt er, „habe ich auf ein ,klärendes Gespräch’ mit meinem Vater gehofft. Heute weiß ich, dass wir dieses Gespräch nie führen werden. Alle meine Versuche scheiterten und endeten in einem Kreislauf aus Streit aus Streit, Missverständnissen und neuem Schmerz“, heißt es.
Gleichwohl sei er inzwischen mit sich selbst im Reinen. Der „Sohn vom Kohl“, der er in der Schulzeit gewesen sein, habe „ein neues Verhältnis“ zum Vater: „Er bleibt mein Vater, aber er ist weit weg.“