Braunschweig. Gruppenvergewaltigungen, Missbrauch, ein Mordplan: Ramona und Thorsten R. wurden von der eigenen Tochter schwer beschuldigt – zu Unrecht.

Kurz bevor sie freigesprochen wurden und die Richterin sie vollständig rehabilitierte, ergriff Thorsten R. die Hand seiner Frau Ramona. „Überstanden. Endlich. Es ist vorbei“.

Einige Wochen später, es ist ein kühler Herbstmorgen. Ramona (54) und Thorsten R. (58) sitzen in der Kanzlei ihres Anwalts in Salzgitter (Niedersachsen). Sie wollen reden, über falsche Anschuldigungen und quälende Fragen. Vor Gericht und der Öffentlichkeit schwiegen die Eheleute R. bisher weitgehend. Unserer Redaktion und dem „Spiegel“ haben sie sich nun erstmals geöffnet, um über diesen folgenschweren Justizirrtum zu sprechen.

Vor allem eine Frage geht ihnen nicht aus dem Kopf. „Warum? Warum hat unsere Tochter das getan?“ Mehr als zwei Jahre lang sahen sie sich schlimmen Vorwürfe ausgesetzt. Josephine R. (26) behauptete, die Mutter und der Adoptivvater hätten sie vergewaltigt, gequält, für sadistische Sexorgien verkauft. Lange Zeit glaubte die Braunschweiger Justiz und Staatsanwaltschaft der jungen Frau. Zweifelnde Stimmen vonseiten der Polizei verhallten ungehört. 

Im Juni 2024 hob das Landgericht ihre Haftbefehle auf. Zum ersten Mal seit 684 Tagen waren Ramona und Thorsten R. wieder frei. Eine überfordernde Erfahrung, berichten die beiden.
Im Juni 2024 hob das Landgericht ihre Haftbefehle auf. Zum ersten Mal seit 684 Tagen waren Ramona und Thorsten R. wieder frei. Eine überfordernde Erfahrung, berichten die beiden. © Florian Kleinschmidt | Florian Kleinschmidt

22 Monate verbrachten die Eheleute in Untersuchungshaft, zwischenzeitlich schien es, als käme zumindest die Mutter nie wieder frei. Das Landgericht Braunschweig verhängte im Vorjahr lange Haftstrafen: Thorsten R. sollte 9,5 Jahre ins Gefängnis, Ramona R. für 13,5 Jahre – mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die Richter zählten sie somit zu den gefährlichsten Frauen Deutschlands. Härter kann die Justiz kaum strafen. 

„Horror“-Fall aus Goslar: Polizei rammte nachts die Wohnungstür auf

Die Wende kam, nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil aufhob, der Fall musste neu verhandelt werden. Eine andere Kammer des Gerichts in Braunschweig sprach sie am Ende des zweiten Prozesses frei: „wegen erwiesener Unschuld“, so die Richterin. Sie hielt fest: Sämtliche Anschuldigungen waren falsch – und offenbar inszeniert. Aus Sicht der Richter beschuldigte Josephine R. viele weitere Menschen zu Unrecht. Bei der Polizei waren zeitweise mehr als 50 vermeintliche Täter gelistet, die Staatsanwaltschaft führte 88 Verfahren mit Josephine R. als angeblichem Opfer. 

Für das Paar begann alles in der Nacht auf den 28. Juli 2022. Polizisten rammten die Tür ihrer Wohnung in Goslar auf. „Das vergisst man nicht“, so Thorsten R. Die Beamten brachten sie zu Boden – und kurz darauf in eine Zelle. Was man ihnen vorwarf, hätten sie erst tags darauf erfahren: zwei Vergewaltigungen der eigenen Tochter sowie den Plan, sie mit Tabletten umzubringen. Am Ende umfasste die Anklage 19 Taten. „Ich verstand gar nichts mehr“, berichtet Thorsten R. Wo war es hin, das freundliche Mädchen, das ihn gebeten hatte, sie zu adoptieren?

Im ersten Prozess schwieg das Paar. Das Urteil stand von vornherein fest, war ihr Eindruck. „Es war egal, was wir gesagt hätten“, erzählt die Mutter. „Alles wurde ins Negative gewendet. Ich habe mich so hilflos gefühlt.“ 

So kippte das Bild von Josephine R.

Als sie von der Zeit im Gefängnis berichtet, schießen Ramona R. Tränen in die Augen. Kurz nach der Inhaftierung verstarb ihre Mutter. Sie hoffte, zur Beisetzung fahren zu dürfen, doch die Staatsanwaltschaft habe auf ihren Antrag nie reagiert. Ihr Mann Thorsten verlor in den 684 Tagen Haft seinen Stiefvater. Alles kippte endgültig, nachdem Josephine weitere Personen bezichtigte – Anschuldigungen, die ihr fast niemand mehr glauben konnte. 

Dabei hätten die Schilderungen der 26-Jährigen von Anfang an Anlass gegeben zu zweifeln, sagte die Richterin beim Freispruch. Josephine R. sah sich als Opfer ritueller Gewalt und behauptete, seit der Kindheit zur Sexsklavin erzogen worden zu sein. Sie sei gefoltert und gefilmt worden, erzählte von gewaltsamen Abtreibungen und getöteten Babys. Sie beschuldigte zahllose Personen, einem sadistischen Zirkel anzugehören: ihre Großeltern, den leiblichen Vater, Nachbarn, Ärzte, Ermittler, am Ende gar ihre Anwältin, wie eine Zeugin sagt. 

Als Nachweis der Übergriffe präsentierte Josephine R. Schnitte, Blutergüsse, Brandwunden und Würgemale. Verletzungen, die sie sich nach Ansicht der Richterin selbst beigebracht hat – oder beibringen ließ. „Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Menschen zu zerstören“, bescheinigt sie der 26-Jährigen. Auch andere Beweise entpuppten sich als fingiert. Hilfe erhielt sie dem Gericht zufolge vermutlich von ihrer Partnerin, die ein falsches Geständnis abgelegt habe und in Haft sitzt.

Bei den R.’s entschuldigt hätten sich bisher nur wenige Menschen. Darunter ein Staatsanwalt und ein Richter, der am später aufgehobenen Schuldspruch beteiligt war. Er habe sein Bedauern ausrichten lassen und von einem „Super-GAU“ gesprochen. Gesten, sagt Ramona R., die ein wenig von ihrem Vertrauen in die Justiz wiederbelebt hätten.

Diese Frage quält die Mutter von Josephine R. am meisten

Was sie mit Blick auf Josephine empfinde? „Sie bleibt immer meine Tochter. Ich hasse sie nicht. Aber ich möchte keinen Kontakt mehr.“ Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum erwartet sie nicht. „Diese Ungewissheit ist wie eine Strafe.“ 

Der Braunschweiger Staatsanwaltschaft liegen mittlerweile fünf Anzeigen gegen Josephine R. vor. Wegen falscher Verdächtigung, Verleumdung und übler Nachrede. Ihre Mutter ist unschlüssig, ob sie diesen Weg auch geht. Die junge Frau selbst lehnte es auf Anfrage ab, zu alldem Stellung zu nehmen. Wo sich Josephine R. derzeit aufhält, ist unbekannt.