Essen. Urban Explorer erkunden die faszinierenden Welten unter unseren Füßen. Ein Hobby, das nicht ungefährlich ist – und oft nicht legal. Dafür bekommen sie etwas zu sehen, was nicht viele Menschen niemals zu Gesicht bekommen werden.
Der Eingang zur Unterwelt ist eine ziemlich enge und ziemlich rostige Röhre. Sie liegt irgendwo im Ruhrgebiet, gut versteckt in einem kleinen, zugemüllten Wäldchen. Zerfetzte Sofas und ausgehöhlte Fernseher schimmeln hier still vor sich hin, in der Nähe reckt ein halb verfallener Schornstein seinen rotbraunen Hals in den Himmel. Kenny setzt seine Staubmaske auf, knipst die Stirnlampe an, zurrt den Rucksack fest und verschwindet auf allen Vieren in der Dunkelheit der Röhre. Ein bisschen unwohl ist mir schon, als ich mir meine Staubmaske ebenfalls vor den Mund schiebe und ihm folge.
Im Zweiten Weltkrieg sollte hier ein unterirdisches Krankenhaus entstehen, doch als man gerade mit dem Bau angefangen hatte, war der Krieg plötzlich vorbei. Heute weiß kaum noch jemand von dem halb fertigen Bunker. Und erst recht nicht, wie man hinein kommt.
Dunkel, unheimlich und absolut lebensgefährlich
Auf halbem Weg in die Tiefe rast mein Herz vor Neugier. Mein Verstand aber schreit mich an, sofort umzudrehen. Es ist nicht nur dunkel und unheimlich, sondern absolut lebensgefährlich. Aber irgendetwas in mir übertönt meine Bedenken. Vielleicht ist es die bloße Neugier, vielleicht der kribbelnde Reiz des Verbotenen. Ich weiß es nicht und krabbele weiter.
Kenny war schon oft hier. Fast jedes Wochenende ist der Mittvierziger auf Entdeckungsreise, die Unterwelt des Ruhrgebiets ist quasi zu seinem zweiten Zuhause geworden. Kaum ein Bunker, kaum eine Höhle, Ruine oder verfallene Fabrik, die Kenny noch nicht erkundet hat. Einige Male ist er sogar quer durch Europa gereist, um die Welt unter unseren Füßen zu entdecken und zu fotografieren. „Mich fasziniert diese Welt einfach“, sagt er. Tagelang wälzt er vor seinen Touren die Geschichtsbücher, schaut sich alte Fotos an, spricht mit Zeitzeugen. „Mich interessiert, was dort passiert ist, und vor allem, wie es heute dort aussieht“, sagt er. Für ihn seien diese Erkundungsreisen „erlebbare Geschichte“.
In den allermeisten Fällen ist es verboten
Kenny selbst nennt sich Urban Explorer, was so viel heißt wie Stadterkunder. Andere nennen ihn Industrieschleicher. Wieder andere nennen ihn schlichtweg kriminell. Denn in den allermeisten Fällen ist es verboten, diese verborgenen Orte zu betreten – Hausfriedensbruch. .„Aber“, sagt Kenny, „ich habe noch nie etwas aufgebrochen“. Darauf legt er viel Wert. Auch auf die Tatsache, dass er in den Bunkern nichts zerstört, nichts verschmutzt und nichts mitgehen lässt. Niemals. „Das einzige, was ich hinterlasse, sind meine Fußspuren“, sagt Kenny.
Nichtsdestotrotz hat die Szene einen ziemlich schlechten Ruf. Der Aspekt des Illegalen trägt dazu bei, und außerdem die Tatsache, dass den Explorern sehr schnell eine rechte Gesinnung unterstellt wird. Tatsächlich gebe es unter den Explorern ein paar davon, räumt Kenny ein, doch die seien defintiv in der Unterzahl. Dabei ist die Verachtung in seiner Stimme nicht zu überhören.
Die rostige Röhre endet abrupt. Wir sind da. Ich stehe auf und klopfe mir den Staub von den Klamotten. „Na, hab’ ich zu viel versprochen?“ fragt Kenny, der mit einem breiten Grinsen neben mir steht. Vor uns liegt ein Labyrinth aus stockfinsteren, verzweigten Gängen. Es ist totenstill und viel wärmer als erwartet. Die Wände und Decken sind an vielen Stellen mit einer dicken Schicht Beton verkleidet, und dort, wo der Beton fehlt, glitzern Abertausende Stalaktiten im Licht unserer Taschenlampen. Es sieht aus wie eine Mischung aus Tropfsteinhöhle und mittelalterlichem Folterkeller. Ein unvergesslicher Anblick.
Ich frage mich, wie viele Menschen diesen Ort wohl schon gesehen, geschweige denn betreten haben. Zugegeben, ein bisschen stolz bin ich schon, zu diesen Wenigen zu gehören. Vielleicht ist es das, was den Reiz dieses Hobbys ausmacht: diese Faszination des Verbotenen, diese umwerfenden Orte, dieses Gefühl, etwas zu sehen, was nicht viele Menschen zu Gesicht bekommen.
Kenny, der im oberirdischen Leben Mediengestalter ist, baut mitten in einem der Gänge seine Fotoausrüstung auf. Mit Hilfe unterschiedlicher Lichtquellen taucht er die Szenerie in eine gespenstische Atmosphäre. Über vier Stunden verbringen wir hier, tief unter dem Ruhrgebiet. Irgendwann packen wir zusammen und krabbeln durch die Röhre zurück an die Oberfläche. Das einzige, was wir hinterlassen, sind unsere Fußspuren.