Köln. .
Sechs Jahre lang war Ingrid Betancourt in der Hand kolumbianischer FARC-Rebellen. Sie lebte im Dreck und hinter Stacheldraht, wagte fünf Mal die Flucht, wurde eingefangen, monatelang am Hals angekettet, von ihren Freunden getrennt, und von ihren Wächtern verhöhnt.
Im Gespräch mit dieser Zeitung erinnert sich die frühere kolumbianische Präsidentschaftskandidatin an ihre private Hölle.
Sie wirkt so zart
wie eine 14-Jährige
Ingrid Betancourt ist 48 Jahre alt, aber sie wirkt so zart wie eine 14-Jährige. Ihr leichter Händedruck, ihr melancholischer Blick, ihre ganze Gegenwart wecken Beschützerinstinkte. Wer kann sich diese Frau im Urwald-Krieg vorstellen? In ihr muss eine ungeheure Kraft zum Widerstand stecken, aber die ist gut versteckt. Nach außen ist sie gleichmütig, freundlich, warmherzig.
„Bei mir gab es nie ein Stockholm-Syndrom“, sagt Ingrid Betancourt mit ihrer weichen Gute-Nacht-Geschichten-Stimme. Mit Stockholm-Syndrom meint sie die Neigung von Entführten, sich aus Selbstschutz mit ihren Entführern zu solidarisieren. „Ich habe ein tief sitzendes Gefühl für Gerechtigkeit, und was man uns Entführten angetan hat, war Unrecht. Die Rebellen wollten uns davon überzeugen, dass wir Kriegsgefangene waren. Viele haben das sogar anerkannt, ich aber nie. Gefangene haben Rechte, dürfen Besuch empfangen und wissen, wann ihre Strafe endet. Wir waren Entführte, verschleppt von Verbrechern an einer Straßenkreuzung.“
Sie hat viel nachgedacht über Recht und Unrecht, über Wut und Vergebung. „Der Mensch wächst mit seinem Schmerz”, glaubt sie. Wenn das stimmt, dann ist die Betancourt heute eine große Persönlichkeit. Der Schmerz war immer da: Als sich ihre Leber entzündete, als sie nach tagelanger Flucht doch wieder an der Kette abgeführt wurde, als sie vom Tod des Vaters erfuhr...
„Mit der Zeit werden die Guten böse“, sagt Ingrid Betancourt. 50 Mal sei sie zu anderen Guerilla-Einheiten verlegt worden. „Am Anfang sind sie immer nett. Sie respektieren dich, sie sind neugierig auf dich, sie helfen und teilen. Nach wenigen Wochen ist das vorbei. Dann werden sie grausam, quälen dich, lachen dich aus. So ist das, wenn es keine Zeugen gibt, kein schützendes Gesetz.“ Auch sie selbst hat gehasst, dieses fremde Gefühl erlebt: „Ich könnte töten.“
Aber da gab es auch menschliche Größe. „Lichtwesen“ nennt Betancourt ihre wenigen Freunde im Dschungel, den Politiker Luis Eladio Perez, den sie liebevoll „Lucho“ nennt und den US-Amerikaner Marc Gonsalves. „Es gibt Menschen, die dich mit Zuneigung ernähren können“, meint sie.
Wenige kommen in ihrem Urteil so gut weg. In dem Buch „Kein Schweigen, das nicht endet“, das sie über ihre Entführung geschrieben hat, geht es seitenweise um den Konflikt mit ihrer Gefährtin Clara Rojas. Clara ist die Angepasste, Ingrid die Rebellin. Rojas wehrt sich heftig gegen diese Darstellung. Andere Geiseln werfen Betancourt vor, die Prinzessin gespielt zu haben. „Klar, es gab Probleme, vor allem mit Clara. Aber sie war eine der ersten, denen ich das Buch geschickt habe“, beteuert Betancourt. Selbst Clara habe im Urwald „großartige Momente“ gehabt: „Als wir von Hornissen attackiert wurden, war sie die erste, die die Panik überwand und diese Insekten systematisch tötete.“
„Ich bin keine Politikerin mehr“, sagt Ingrid Betancourt, die einst Kolumbien regieren wollte. „Ich fühle mich wohler, wenn ich in den Zeitungen im Gesellschaftsteil auftauche. Im Moment weiß ich ja noch nicht einmal, wo ich leben soll, wohne abwechselnd bei meinem Sohn Lorenzo in Frankreich und meiner Tochter Melanie in den USA.“ Mit den Führern der FARC-Guerilla würde sie sich heute „an einen Tisch setzen und Kaffee trinken“. Dennoch: Den harten Kurs des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos hält Betancourt für richtig: „Die Guerilla braucht militärischen Druck“, sagt sie. Mit samtweicher Stimme.