Berlin.
Alarmierendes Ergebnis einer Studie: Jedes fünfte Kind in Deutschland fühlt sich benachteiligt und „schreit“ nach mehr Zuwendung. Vor allem die Entwicklung bei den Jungen macht den Forschern Sorge.
Ein Fünftel der deutschen Kinder zwischen sechs und elf Jahren sehen keine Perspektive für ihre Zukunft und fühlen sich massiv benachteiligt. Die Kluft zwischen den etwa 80 Prozent der Kinder, denen es gut gehe, und den 20 Prozent, die ihre Zukunft negativ sähen, sei gewachsen, sagte der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung der Kinderstudie von TNS Infratest im Auftrag des christlichen Hilfswerks World Vision. Viele trauten sich keine erfolgreiche Schullaufbahn zu. „20 Prozent ist an der Stelle durchaus ein dramatischer Befund“, sagte die Bundestagsabgeordnete Katja Dörner (Grüne), die Mitglied der Kinderkommission ist.
Im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2007 habe sich zwar die materielle Situation der Kinder nicht verschlechtert, sagte Hurrelmann. Allerdings beklagten viele Kinder, dass sie zuhause und in der Schule zu wenig Zuwendung bekämen. Für das Wohlbefinden in der Familie wünschten sich die Kinder „fürsorgliche Eltern“, die sie ernst nähmen, ihnen Freiheiten zur freien Zeitgestaltung gäben und aber auch durch Regeln eine Ordnung vorgäben, beschrieb die Sozialwissenschaftlerin Sabine Andresen die Anforderungen der Kinder. Gerade wenn die Eltern arbeitslos seien, beklagten viele Kinder eine gewisse „Strukturlosigkeit“, fügte Hurrelmann hinzu.
Gezielte Förderung fehlt
Vielen Jungen und Mädchen fehle es an Rückhalt, Anregungen und gezielter Förderung. Sozialwissenschaftler Ulrich Schneekloth betonte, dass Bildung nicht nur in der Schule stattfinde. „Kinder brauchen Zeit dafür, ihre Umwelt zu erforschen.“ Das müsse bei der Erarbeitung von Konzepten für Ganztagsschulen berücksichtigt werden, die für benachteiligte Kinder große Chancen böten. „Kinder wollen die Ganztagsschule“, aber bloß nicht den ganzen Tag Unterricht, sagte Schneekloth. Die Wissenschaftler appellierten außerdem an die Politiker, statt in das Kindergeld mehr finanzielle Mittel beispielsweise in Sportvereine zu investieren. Das Betreuungsgeld lehnte Hurrelmann ab.
Die Studie deutet auf einen Umbruch im Geschlechterverhältnis hin. Während Jungen ihre Freizeit sehr einseitig vor dem Fernseher oder Computer verbrächten und sich weniger für ihre Zukunft interessierten, seien Mädchen deutlich ehrgeiziger und lernbereiter. Hurrelmann betonte, dass dieser Passivität mit entsprechenden Angeboten begegnet werden müsse, darunter eine gezielte Lese- oder Ausdauerförderung.
Ein-Verdiener-Familie rückläufig
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die traditionelle Ein-Verdiener-Familie rückläufig ist, nur noch 40 Prozent aller Kinder leben in einem solchen Haushalt. Der Großteil der befragten Kinder begrüßte es allerdings, dass beide Elternteile arbeiteten. „Die Kinder sind demgegenüber positiv eingestellt, sie begrüßen es, wenn Geld da ist und sich die Eltern beruflich wohlfühlen“, erläuterte Hurrelmann.
Die World Vision Kinderstudie wurde 2007 zum ersten Mal veröffentlicht, für die aktuelle Ausgabe wurden erstmals auch Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren befragt. (ddp)