Essen/Rausdorf. .

75 Jahre hat er überlebt. Keine Problem für einen Überlebenskünstler, sollte man meinen. Andererseits gilt: Wer die Gefahr sucht, kommt darin um. Wenn das zuträfe, müsste Rüdiger Nehberg seit Jahrzehnten das Wurzelgemüse von unten bestaunen. Er ist aber noch da, er hat auch noch was zu sagen, und er träumt einen Traum.

Herr Nehberg, Sie haben vor zehn Jahren den Verein „TARGET“ gegründet. Hauptaufgabe ist der Einsatz gegen weibliche Genitalverstümmelung. Sie haben es 2006 geschafft, dass mit Unterstützung hoher muslimischer Geistlicher ein offizielles Rechtsgutachten (Fatwa) veröffentlicht wurde. Ergebnis: Genitalverstümmelung ist ein strafbares Verbrechen, das gegen höchste Werte des Islam verstößt. Seitdem ist es etwas ruhig geworden um „TARGET“. Haben Sie überhaupt noch große Ziele?

Rüdiger Nehberg: Die Fatwa war unglaublich wichtig. Wir, also meine Frau Annette, ich und die anderen Köpfe, die hinter TARGET stehen, hatten damals die Illusion, dass sich diese gute Nachricht von alleine verbreiten würde. Das war aber leider nicht der Fall. Es fehlen ganz einfach die Verbreitungsmöglichkeiten, denn es gibt ja keine Zeitung in der Sahara. Nun haben wir ein „Goldenes Buch“ geschrieben, das TARGET in allen 35 Ländern, in denen die weibliche Genitalverstümmelung noch üblich ist, gratis an die Vorbeter der Moscheen verteilen möchte. Das Vorwort hat übrigens der Großmufti von Ägypten geschrieben, immerhin der zweitwichtigste islamische Würdenträger auf der Welt. Wir möchten vier Millionen Bücher an vier Millionen Moscheen verteilen, es sind aber bisher erst 110000 gedruckt worden. Der Weg zur Verbreitung ließe sich enorm abkürzen, wenn es mir gelänge, einen Termin beim saudischen König zu bekommen. Der Antrag ist gestellt. Ich habe einen großen Traum, das ist sozusagen das große Thema meines Lebens: Der saudische König möge uns dabei helfen, die Fatwa in Mekka zu verkünden. In der Hauptpilgerzeit kommen dort vier Millionen Menschen zusammen. Wenn das klappte, dann wüsste auch der letzte Beduine hinter der letzten Düne, dass Genitalverstümmelung ein Verbrechen ist. Ich glaube, dass es Chancen gibt, den König für unsere Arbeit zu gewinnen. Denn Saudi Arabien setzt sich gegen die Verstümmelung ein, und eine solche Aktion könnte auch das Image des Islam verbessern.

Wie hoch ist der Etat von TARGET?

Rüdiger Nehberg: Wir haben im Moment eine Million Euro angespart. Aber das Drucken der Bücher wird viel Geld kosten. Ein Buch kostet in der Herstellung vier Euro, aber dann ist es ja noch nicht bei denen, die es lesen sollen. Mit allen Nebenkosten kommt so ein Buch auf zehn Euro. Das Buch ist eine Krönung unseres Lebens. Früher, als ich noch Bäcker war, habe ich gedacht, es sei das höchste der Gefühle, mal ein Rezeptbuch zu schreiben. Und nun gibt es dieses Goldene Buch, und der zweithöchste Moslem der Welt unterstützt das. Er hat uns ein Vorwort geschrieben. So etwas hätte ich mir als junger Mensch nicht zugetraut. Dieses Buch ist auch mein Dankeschön an den Islam. Ich würde gar nicht mehr leben, wenn es die große Gastfreundschaft der Muslime nicht gäbe. Zweimal bin ich beim Durchqueren der Danakil-Wüste von Bewaffneten überfallen worden, und unsere Gastgeber haben uns spontan mit ihren Körpern vor den Banditen geschützt.

Viele Deutsche denken schlecht über den Islam. Es gibt sogar eine regelrechte Islamphobie hier und in unseren Nachbarländern. Was sagen Sie den Leuten, die sich vor dem Islam fürchten?

Rüdiger Nehberg: Glaubt nicht alle Vorurteile und Gerüchte, die kursieren. Macht Euch möglichst vor Ort ein eigenes Bild. Da gibt es Terror und Fanatismus, aber es gibt auch das Gegenteil. Ich glaube, dass es eine schweigende Mehrheit von Muslimen gibt, die Terror und extreme Botschaften ablehnen. Sie trauen sich vielleicht nicht, sich gegen die Extremisten aufzulehnen. Im Übrigen hat es Terror und Fanatismus bei den Christen ja auch gegeben. Als wir uns gegen die Verstümmelung engagieren und uns mit hohen islamischen Geistlichen treffen wollten, hieß es: ,Die schneiden euch die Kehle durch, diese Leute sind doch gar nicht dialogfähig.’ Das sagten mir Vorstände von Menschenrechtsorganisationen, die gegen die Verstümmelung kämpfen. Mit dieser westlichen oder christlichen Arroganz erreichst du aber gar nichts. Wir kommen in Bescheidenheit zu den Geistlichen und unseren Gastgebern, wir reden mit ihnen auf gleicher Augenhöhe, mit Respekt und Demut. Darum öffnen sich uns auch alle Türen. Seit zehn Jahren mische ich mich als Fremder in muslimischen Ländern in eine uralte Tradition ein, aber ich habe dabei noch keinen einzigen ernsthaften Gegner getroffen.

Wir reden über weit entfernte Länder. Ist Genitalverstümmelung vielleicht auch ein deutsches Thema?

Rüdiger Nehberg: Es kursieren einige Zahlen. Hierzulande sollen rund 20.000 Mädchen betroffen sein. Man darf annehmen, dass die Töchter aller Migranten, die aus den 35 Ländern stammen, in denen es Genitalverstümmelung gibt, grundsätzlich gefährdet sind. Wenn die Eltern hier keinen Arzt finden, der operiert, dann fahren sie in ihre Herkunftsländer, und es geschieht dort. Man muss Migranten, die aus diesen Ländern kommen, von vornherein klar machen: Hier gibt es deutsche oder europäische Gesetze, und wer einem Mädchen so etwas antut, der macht sich strafbar. Solche Eltern gehören ausgewiesen oder in Haft.

Der Abenteurer Nehberg ist in die Jahre gekommen. Zwickt es nun im Körper? Stellt sich die Überlebensfrage nun noch öfter als früher?

Rüdiger Nehberg: Ohne Hörgeräte kann ich kein Gespräch mehr führen. Ich trage eine Brille, habe seit vier Monaten ein Metallknie, meine Kräfte lassen nach, und man hat mir schon allerlei rausoperiert: Meterweise Krampfadern, zum Beispiel. Ich habe Platt- und Senkfüße und muss deshalb Einlagen tragen. Meine Mandeln sind raus, der Blinddarm auch, die Vorhaut habe ich mir abschneiden lassen, weil ich da zuweilen Entzündungen hatte. Was hier jetzt mit Ihnen spricht, ist nur noch die Restsubstanz. Ich habe ein Glas mit Alkohol in meinem Büro, in dem einige dieser rausoperierten Teile herumschwimmen. Das ist sozusagen mein Lebensindikator: Das Glas wird immer voller, und ich werde immer leerer. Neulich musste ich mir sogar eine neue Jacke kaufen, weil ich schrumpfe.

Würden Sie sich noch einen Deutschlandmarsch zutrauen? 1000 Kilometer ohne Geld und Ausrüstung?

Rüdiger Nehberg: Ich würde keine meiner Abenteuer-Reisen heute mehr schaffen. Ich habe davon geträumt, noch einmal den Blauen Nil zu befahren und dieses Stück Ur-Afrika zu genießen. Es bleibt ein Traum. Ehrlich gesagt, könnte ich heute nur noch als Gepäckstück reisen. Die Kraft ist nicht mehr da, darum biete ich auch keine Survival-Kurse mehr an.

Denken Sie öfter an den Tod?

Rüdiger Nehberg: Mit zunehmender Tendenz. Logisch. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Wenn man inmitten der Natur, im Regenwald, in Hängematten schaukelt, dann merkt man schnell: Alles ist vergänglich: Arm und Reich, Pflanze und Tier. Meine Zeit ist absehbar, und dann recycelt mich die Natur. Bin mal gespannt auf die nächste Phase. Bin ich dann nur noch Kompost, oder kommt da noch was…

Sie sind ein „Kriegskind“, 1935 geboren? Ist diese Generation besonders zäh?

Rüdiger Nehberg: Viele aus meiner Generation haben gelernt, was ein Stück Brot wert ist. Deswegen bin ich auch Bäcker geworden. Ich weiß, wie sich Not anfühlt. Wie wichtig ein Stück Bindfaden sein kann. Man legt es sich in die Schublade, weil man es ja vielleicht mal gebrauchen könnte. Die Jüngeren kennen das nicht. Neulich habe ich bei Günther Jauch gesehen, das eine sehr junge Frau sich Designer-Handtaschen gekauft hat, für die sie vier Stunden mit dem Auto gefahren ist. Da fasst man sich doch an den Kopf! Solche Leute haben keine Ahnung, wie das ist, wenn man nichts hat. Noch etwas habe ich als Kriegskind gelernt: Dass es Missstände gibt wie die Nazi-Diktatur, von denen man sich als einzelner Mensch nicht selbst befreien kann. In solchen Situationen bist du auf die Hilfe anderer angewiesen. Damals sind Millionen alliierter Soldaten gestorben dafür, dass wir heute eine Demokratie haben und in Saus und Braus leben können.

Wir führen also ein sorgenfreies Leben?

Rüdiger Nehberg: Noch. Aber schauen wir uns doch mal unsere Staatsverschuldung an und die noch viel größeren Missstände in Griechenland, Portugal und Italien. Diese Maßlosigkeit und Dekadenz werden uns am Ende noch das Genick brechen. Daran sind schon ganz andere Weltreiche zerbrochen. Ich habe das Sauglück , in der einzigen Phase der deutschen Geschichte zu leben, in der es so viel Wohlstand, Sicherheit und Demokratie gibt. Diese Bildungschancen, diese Presse- und Redefreiheit - das kennen andere Völker nicht einmal als Vokabel.

Sie haben immer über Pauschalreisen gelächelt. Mittlerweile buchen die Leute All-Inclusive-Urlaube. Alles ist drin im Preis. Da graust es den Abenteurer, was?

Rüdiger Nehberg: Für alles sind der Staat oder die Versicherung verantwortlich, es gibt kaum noch Bereitschaft zum Risiko. Da rufen mich Journalisten an und fragen: Wie kann man bloß so verrückt sein und sich nackt von einem Hubschrauber im Urwald absetzen lassen? Das sind Leute, die würden nicht mal unbewacht vor die Hoteltür gehen, weil da draußen eine Malariamücke umherschwirren könnte. Diese Menschen haben ja gar keine Ahnung davon, wie toll es ist, zu spüren, dass man ein intaktes Lebewesen ist, das sich ganz ohne Komfort bewegen, ernähren und durchkämpfen kann. Glauben Sie mir: Das ist ein unglaubliches Glücksgefühl! Wenn hier der Strom ausfällt, dann brechen doch die ganzen Fernsehgucker und Computer-Nutzer schreiend und hilflos zusammen.

In Deutschland kursierte in den letzten Monaten die Angst: vor der Schweinegrippe, vor Vulkanasche. Sind wir zu hysterisch?

Rüdiger Nehberg. Ach, die Schweinegrippe. Die wurde für irgendwelche Sensationsartikel hochgepusht, aber das entbehrte jeder sachlichen Grundlage. Was ist denn daraus geworden? Die Schweine sind vergnügt, und wir Menschen sind auch vergnügt. Ich kenne in meinem gesamten großen Bekanntenkreis keinen, der an der Schweinegrippe zugrunde gegangen ist.

Sie sind als Schlangen-Freak bekannt. Was haben Sie gedacht, als eine kleine Kobra jüngst ganz Mülheim in Atem hielt?

Rüdiger Nehberg: Es wäre nicht zu verantworten gewesen, wenn die Schlange jemanden gebissen hätte. Auch eine so junge Kobra kann schon einen Menschen töten. Mir ist so etwas selber mal vor Jahren mit einer ausgewachsenen Kobra passiert, die war auch ausgebüxt. Dann hatte ich die Idee, einen Jäger um Hilfe zu bitten. Der sollte mit seinem Teckel die Schlange suchen, und das hat auch geklappt. Der Hund hat die Schlange sofort entdeckt, und ich war aus dem Schneider. Aber machen wir uns nichts vor: Bei dieser Geschichte in Mülheim war schon sehr viel Hysterie im Spiel.

Was empfehlen Sie Senioren, die nicht zum Alten Eisen gehören möchten? Die das Abenteuer Alter genießen möchten?

Rüdiger Nehberg: Angemessen an die geistige und körperliche Restsubstanz kann man auch im Alter noch etwas erleben. Eine Wanderung kann ein Abenteuer sein, man kann joggen oder sich mal eine Nacht allein im Wald aufhalten. Es kann auch Spaß machen, sich mal nur von einem selbst gefangenen Fisch und ein paar Pflanzen zu ernähren. Wer nur daran denkt, wann es die nächste Rente gibt oder wer die Autos vor dem Fenster zählt, der gehört zum alten Eisen. Ich habe noch so viele Pläne und Ideen. Viel mehr als ich noch Restlebenszeit habe.

Wie feiern Sie Ihren Geburtstag?

Rüdiger Nehberg: Meine Frau Annette und ich hatten eigentlich was Großes geplant: Der Großmufti von Ägypten wollte mir im Völkerkundemuseum die Ehre seines Besuchs erweisen. Das hat sich aber zerschlagen. Dieser Geburtstag ist für mich wahrscheinlich die letzte große Chance, für TARGET und das Engagement gegen Genitalverstümmelung zu werben. Das Medienecho in den letzten Wochen war groß, und nun freue ich mich auf einen eher stillen Geburtstag mit Familie und ein paar Freunden. Danach muss ich sofort in den Sudan und nach Äthiopien wegen der Verteilung der Goldenen Bücher.