Port-au-Prince. .

Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben auf Haiti fehlt es an Strom und Obdach. Die Menschen wollen die Insel nicht nur wiederaufbauen, sondern neu erfinden.

Da sitzen sie wie eine Schulklasse und lernen, was eigentlich mit ihren Kindern los ist. 15 junge Erwachsene in einem Zelt der Unicef, „Sabine“ oder „Antoinette“ heißen sie nach ihren Namensschildern, und an der Tafel steht auf kreolisch: „Ki sa konfli a ye?“ Wie erkennen Sie einen Konflikt? Na ja, das sehen sie schon, wenn der kleine Sohn plötzlich um sich schlägt oder die Tochter vor Alpträumen nicht schlafen kann; und „sich zurückziehen, niedergeschlagen sein“ zählt Projektleiter Claudel Choissy gleich noch auf als Symptom. Die Kinder sind traumatisiert, und ihre Eltern lernen hier, wie sie helfen können.

Port-au-Prince, die Hauptstadt Haitis, knapp ein halbes Jahr nach dem Beben. Es muss wohl niemand mehr hungern, frieren ja sowieso nicht. Für die vielen Hilfsorganisationen aus aller Welt ist die Phase der ersten Hilfe beendet. Es beginnt etwas Anderes.

Haiti neu erfinden

„Das war die schlimmste Katastrophe, die ich je sah“, sagt Peter Buijs – und der Mann ist Care-Regionaldirektor für ganz Lateinamerika und die Karibik! Doch Hungernde zu retten, Seuchen zu verhindern, Zelte aufzuschlagen, das war gestern. Jetzt beginnt: Gliedmaßen zu ersetzen, Obdach zu verbessern, Schulen anzuwerfen.

„Wiederaufbau“ wollen die Helfer das nicht nennen, das gemeinsame Ziel ist viel ehrgeiziger: Haiti neu zu erfinden, das alte zurückzulassen, welches auch ganz ohne Beben völlig verarmt war, verkämpft und ausgepresst von grotesken Herrschern („Papa Doc“ Duvalier ließ das Vaterunser auf sich umschreiben. Hallo, Nordkorea: DAS ist Personenkult). Es war die afrikanische Krankheit in der Variante: Fluch der Karibik.

3,5 Quadratmeter pro Person sieht die UNO vor

Man muss sich Marie Lucie Joseph als eine Frau vorstellen, die verinnerlicht hat, dass alles noch viel schlimmer sein kann. In den 35 Sekunden des Bebens starben zwei Enkel, das Haus stürzte ein und die Ware ihres Kleinhandels wurde verschüttet. Nun konnte die Familie umziehen in ein Einraum-Holzhäuschen – 3,5 Quadratmeter pro Bewohner sieht die UNO vor, aber das ist natürlich viel besser als das Zelt davor.

„Ich bin zufrieden“, sagt Marie Joseph nun: Auf der Fläche Belle Alliance ist eine der ersten Obdach-Siedlungen überhaupt entstanden. 20 Holzhäuschen vielleicht, Latrinen und ein Wassertank unter sengender Sonne. Hier wird die neunköpfige Familie einschließlich des angenommenen Sohnes der erschlagenen Nachbarn zwei, drei und vielleicht fünf Jahre leben, bis sie wieder ein Haus aus Stein errichten kann. „Ich bin zufrieden“, sagt Joseph also: „Probleme gibt es nur mit Lebensmitteln und mit Strom.“ Nur.

Nachts nicht auf die Straße

Es kostet Nerven, sich durch die Millionenstadt Port-au-Prince zu bewegen, und das nicht wegen des aberwitzigen Verkehrs, wie er ruckelnd in die Schlaglöcher hinein- und dann wieder herausklettert. Es sind die Eindrücke: Schon wieder eine Zeltstadt links, rechts die lange Reihe der Mobiltoiletten. Trümmergrundstücke, andere Häuser halb zerstört. Müll, er kokelt gern. Und der viele Bauschutt! Steine über Steine, von denen niemand weiß, wo man die einmal lässt. So hängt ein ständiger Staub über dieser Stadt: keine Spur von Prinzenhafen.

Die Hilfsorganisationen haben ihre Mitarbeiter angewiesen, mehr oder weniger mit der Dunkelheit von den Straßen zu verschwinden. 19 Uhr. Es geht nicht nur um Kriminalität dabei. Sondern auch darum, dass Port-au-Prince keine Straßenbeleuchtung hat: Mit einem falschen Schritt kann man in ein Was-auch-immer stürzen. Daher ziehen sie sich zurück in Wohnungen der Organisationen, in bewachte Hilfsprojekte oder in die erhaltenen Hotels von Petionville, dem besseren Stadtteil auf den Hügeln, wo die Zerstörung nicht flächendeckend ist.

„K-Fou“ - Das „irre“ Stadtgebiet

Das Gegenteil wäre dann Carrefour, eher ein schwieriges Gebiet; selbst die völlig überladenen und bunt lackierten Busse, die dorthin fahren, nennen ihr Ziel „K-Fou“, „Irre“. Carrefour war der Stadtteil, wo die Eltern lernen, wie sie ihren traumatisierten Kindern helfen. Neben deren Unicef-Zelt steht ein Haus, dem zwei Wände fehlen. Darin sieht man eine junge Haitianerin sitzen in einem Kleid, das ist weißer als weiß, und sie frisiert sich sorgfältig.

Leben geht weiter.