Essen. .
Die größte Angst des Menschen ist nicht so sehr die Angst vor dem Tod. Es ist die Angst, medizinischen Apparaten und ärztlicher Willkür ausgeliefert zu sein. Diese Angst wird abnehmen, sagen Intensiv-Mediziner nach dem Urteil des Bundes-Gerichtshofs.
Gestern hatten die Richter Wolfgang Putz freigesprochen. Der Münchener Anwalt hatte der Angehörigen einer Wachkoma-Patientin geraten, die Magensonde durchzuschneiden. Vorangegangen war ein jahrelanges Bemühen der Verwandten, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen, weil dies angeblich der Wille der Kranken war. Das Problem: Ihr Wunsch war nicht schriftlich formuliert. Es fehlte eine Patientenverfügung. Für den Rat an die Tochter wurde Putz zunächst wegen versuchten Totschlags durch das Landgericht Fulda verurteilt. Doch seit gestern steht fest: Es war keine aktive Sterbehilfe.
„Es wurde etwas aktiv weggelassen“, sagt Dr. Marianne Kloke vom Zentrum für Palliativmedizin, Kliniken Essen-Mitte. Etwas aktiv weglassen, das sei der große Unterschied zu etwas aktiv verabreichen – einen Giftcocktail zum Beispiel. Das sei aktive Sterbehilfe. Die Richter jedoch verzichteten auf die Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe und sprachen von „Behandlungsabbruch“, der erlaubt sei.
Für viele Palliativmediziner wie auch für Dr. Matthias Thöns vom Bochumer Palliativnetz ist das Urteil „ein unglaublich positives Signal“, weil es Ärzten ermögliche, „Menschen am Lebensende ihrem Willen nach zu versorgen – ohne den Staatsanwalt fürchten zu müssen.“
Während Thöns, Kloke und die meisten Palliativ- und Intensivmediziner dieses Urteil als große Chance auf mehr Rechtssicherheit verstehen, spricht Eugen Brysch eine andere Sprache. Der Geschäftsführer der Deutschen Hospiz Stiftung hält das Urteil für „ein fatales Signal, das dem Grundrecht Schwerstkranker auf Selbstbestimmung und Fürsorge nicht gerecht wird.“ Bryschs Sorge gilt vor allem dem Umstand, dass möglicherweise „ein beiläufiges Vieraugengespräch ohne Zeugen ausreicht“, um die Geräte abzuschalten. Denn bis jetzt war die Patientenverfügung Anhaltspunkt für ärztliches Handeln – doch ab jetzt gilt auch der mutmaßliche Wille des Kranken.
Wenn er nicht mehr leben will – „ja, dann kann man die Geräte abschalten“, sagt Marianne Kloke, die aber auf höchste Sensibilität dringt. „Es ist ein gutes Urteil“, sagt sie. „Aber es ist ganz wichtig, dass jetzt verantwortungsvoll damit umgegangen wird.“
Kloke rät zu speziellen Patientenverfügungen
Kloke will, dass Patientenverfügungen nur im Beisein eines Arztes ausgefüllt werden. Man könne von Laien nicht erwarten, dass sie alleine am Küchentisch per Ankreuzverfahren über so höchst komplexe wie existenzielle Entscheidungen befinden. „Es muss Kassenleistung werden, dass der Arzt zusammen mit dem Patienten diese Formulare ausfüllt“, sagt die Ärztin.
Wer weiß denn, was er wirklich will am Ende seiner Tage? Vielleicht hilft einem Gerätemedizin ja, weil sie es schafft, wieder gesund zu werden. Wenn da aber auf dem Papier steht: keine Infusionen, keine Geräte, dann muss sich der Arzt demnächst daran halten. Dabei könnte es sein, dass der Patient nur unterzuckert ist, aber mit Krampfanfällen auf der Intensivstation landet. Würde man ihm dann Infusionen verweigern, wäre das möglicherweise der Tod. Mit Infusion könnte er sich aber wieder schnell des Lebens freuen. Dr. Ulrich Kampa, Intensiv-Mediziner im Evangelischen Krankenhaus Hattingen, beschreibt so die neuen Probleme, vor denen Ärzte stehen werden. „Wir müssen noch genauer herausfinden, was der Patient wirklich will.“
Falls nichts schriftlich vorliege, müsse das Gespräch mit den Angehörigen noch intensiver ausfallen. Für Ärzte könnte das eine Umstellung ihrer Arbeitsabläufe bedeuten.
Kloke rät zu speziellen Patientenverfügungen: Wenn jemand schwer lungenkrank ist, sollte es konkret heißen: „Beatmung per Sauerstoff-Maske ja, aber keine Beatmung per Maschine. Oder wie es Wunsch ist.“ Wichtig sei, die individuelle Lage genau zu berücksichtigen. Ein Krebskranker habe andere Gedanken zum Tod als ein Gesunder.