London. Eine Studie zeigt, dass 5-jährige Briten kleiner sind als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Das sind laut Experten die Gründe.
Dass es der britischen Gesellschaft nicht gut geht, das weiß man mittlerweile. In den vergangenen Jahren hat ein Notstand den nächsten gejagt. Der Gesundheitsdienst steht kurz vor dem Kollaps, die exorbitanten Lebenshaltungskosten stürzen immer mehr Menschen in die Armut, die Wirtschaft wird geplagt von unzähligen Problemen. So allumfassend sind die Krisen, dass die Insel den Spitznamen „kranker Mann Europas“ erhalten hat. Diese Woche wurde eine neue Statistik veröffentlicht, die den Eindruck einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Krise vertieft: Britische Kinder sind kleiner als ihre Altersgenossen in vergleichbaren Ländern.
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Die Studie vergleicht die Körpergröße von 5-jährigen Kindern in mehreren Ländern. Demnach sind britische Mädchen im Durchschnitt 111,7 Zentimeter groß. Zum Vergleich: In Frankreich messen sie 113,6 Zentimeter, in Deutschland 113,3 Zentimeter. Bei den Jungs ist die Lücke ebenso deutlich, junge Briten sind ebenfalls kleiner als ihre Altersgenossen. Das war vor einigen Jahrzehnten noch anders: 1985 kamen britische Schulkinder im internationalen Größenvergleich auf Platz 69 von 200 – heute sind die Mädchen auf Platz 96, die Jungs auf Platz 102.
Großbritannien leidet unter Sparprogramm, das 2010 begann
„Sie sind dreißig Plätze nach hinten gefallen, das ist ziemlich erschreckend“, sagte Tim Cole, Professor für medizinische Statistik am University College London. „Die Frage ist: Wieso?“ Cole – der nicht an der Studie beteiligt war – hat eine Vermutung, was die Antwort sein könnte: Die betroffenen Kinder wurden in den 2010er-Jahren geboren, „also zur Zeit der Sparpolitik. Das sagt mir, dass die Austerität das Wachstum der Kinder in Großbritannien gehemmt hat“.
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Diese These wird gestützt von zahlreichen Studien, die in den vergangenen Jahren die Effekte der Sparpolitik unter die Lupe genommen haben. Das Sparprogramm begann 2010, unter der konservativen Regierung von David Cameron. Es verschrieb nicht nur dem Gesundheitsdienst NHS eine Verschlankungskur, sondern beschränkte auch Sozialleistungen, etwa die Kinderzulage. Jährlich wurden dem Sozialetat mehrere Milliarden Pfund entzogen.
Kinder und Familien hätten die Austerität am stärksten zu spüren bekommen, schreibt die Soziologin Yekaterina Chzhen vom Trinity College Dublin. Der Uno-Sonderberichterstatter zu extremer Armut, Philip Alstom, warnte 2019 in einem ausführlichen Bericht, dass die Sparpolitik die Fortschritte bei der Bekämpfung der Kinderarmut rückgängig gemacht habe. „Die Armut nimmt erneut zu“, lautete sein Fazit.
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Britische Krankenhäuser beobachten zunehmend „viktorianische Krankheiten“
Der Ärzteverband British Medical Association (BMA) hatte schon 2016 Alarm geschlagen. In einer Studie wiesen Kinderärzte darauf hin, dass die Armut sich direkt auf die Gesundheit der Kinder auswirke: Sie werden zu früh geboren und haben im späteren Leben häufiger Probleme, sowohl körperliche als auch psychische. Ein entscheidender Faktor ist schlechte Ernährung. Kinder, die regelmäßig billigen Junkfood verzehren, so sagen Ernährungsexperten, sind gleichzeitig übergewichtig und unterernährt – ihnen fehlen wichtige Nährstoffe. „10- bis 11-jährige Kinder in den ärmsten Gegenden von England sind sowohl dicker als auch deutlich kleiner als jene in den reichsten Gegenden“, sagte der Ernährungsexperte und frühere Regierungsberater Henry Dimbleby am Mittwoch.
Ungesundes Essen und der Mangel an Nährstoffen ist auch dafür verantwortlich, dass man in britischen Krankenhäusern seit einigen Jahren zunehmend „viktorianische Krankheiten“ behandeln muss – also Erkrankungen, die der wachsende Wohlstand im Lauf des 20. Jahrhunderts weitgehend aus der britischen Gesellschaft verbannt hatte. Zum Beispiel Skorbut, eine durch Vitamin-C-Mangel bedingte Krankheit. Dieses Vitamin sei in so vielen Früchten und Gemüsearten zu finden, dass es heutzutage eigentlich schwierig sei, überhaupt Skorbut zu bekommen, schrieb die Ernährungswissenschaftlerin Ali Hill vor einigen Jahren. Dennoch hat sich die Zahl der Skorbut-Fälle in Großbritannien seit 2010 verdoppelt. Ebenso auf dem Vormarsch ist die Knochenerkrankung Rachitis – früher bekannt als „englische Krankheit“ – die auf einen Mangel an Vitamin D zurückgeht.
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Im Kern geht es beim gehemmten Wachstum der britischen Kinder um den tiefen Graben zwischen Arm und Reich. Die Ernährung sei einer der klarsten Marker der Ungleichheit, sagt Henry Dimbleby: Studien zeigen, dass Kinder aus dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung etwa einen Drittel weniger Früchte und Gemüse, 75 Prozent weniger Fisch, und ein Fünftel weniger Fasern essen als Kinder aus den wohlhabendsten Familien.
Großbritannien: Inflation vertieft Mittellosigkeit
Die Situation dürfte sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Denn infolge der steigenden Inflation, insbesondere bei den Lebensmittelpreisen, hat sich die Mittellosigkeit im vergangenen Jahr in Großbritannien weiter vertieft. Im März meldete der Thinktank Food Foundation, dass sich die Zahl der Kinder in „Ernährungsarmut“ im vergangenen Jahr fast verdoppelt hat. 22 Prozent der britischen Haushalte haben laut einer Umfrage Mahlzeiten ausgelassen oder einen ganzen Tag lang nichts gegessen – ein Jahr zuvor waren es nur 12 Prozent gewesen.
Ein wirksamer Weg, schlechte Ernährung und Hunger zu bekämpfen, besteht laut Armutskampagnen darin, allen Schülern gratis Mittagessen bereitzustellen. Die Regierung hat sich noch nicht dazu verpflichtet – aber manche Orte haben eigenhändig gehandelt, zuletzt London: Ab September werden alle Primarschüler in der Hauptstadt einmal kostenlos essen können.
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