Sydney. Vier Kindsmorde wurden der Australierin Kathleen Folbigg vorgeworfen. Doch neue Untersuchungen zeigen: Die Justiz hat sich geirrt.

Nach zwei Dekaden in Haft ist Kathleen Folbigg seit Montag wieder in Freiheit. Ihre Freilassung dominierte die australischen Medien zum Wochenanfang. Der Fall der australischen Mutter hatte das Land über Jahre in den Bann gezogen. War sie anfangs als eine der „schlimmsten Serienmörderinnen“ Australiens dargestellt worden, verdichteten sich im Laufe der Zeit die Hinweise, dass Folbiggs Fall einer der größten Justizirrtümer des Landes ist.

Kathleen Folbigg war 2003 wegen Mordes an drei ihrer Kinder und wegen Totschlags an einem vierten Kind zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt worden – 30 Jahre davon ohne Bewährung. Die Strafe wurde in einem Berufungsverfahren später auf 25 Jahre verkürzt. Folbigg selbst hat stets ihre Unschuld beteuert.

Lesen Sie auch:„Ziemlich-beste-Freunde“-Vorbild Pozzo di Borgo ist tot

In den vergangenen Jahren mehrten sich dann die Verdachtsmomente, dass die Kinder eines natürlichen Todes gestorben sind. Am Montag wurde die 55-Jährige nun – nach 20 Jahren im Gefängnis – vom Generalstaatsanwalts des Bundesstaates New South Wales, Michael Daley, begnadigt. Daley veröffentlichte dabei die Ergebnisse einer Untersuchung, die der ehemalige Oberste Richter des Bundesstaates, Thomas Bathurst, geleitet hatte. Bathurst war während seiner Untersuchungen „zu der festen Überzeugung“ gelangt, „dass es begründete Zweifel an der Schuld von Frau Folbigg für jede der Straftaten gibt, wegen der sie ursprünglich angeklagt wurde“.

Australierin galt als „schlimmste Serienmöderin“ des Landes

Bereits 2021 hatten 90 prominente Forscherinnen und Forscher, darunter Nobelpreisträger und andere führende australische und internationale Wissenschaftler, eine Petition für die Freilassung der Australierin unterzeichnet. Doch bevor Zweifel an der Schuld der vierfachen Mutter aufkamen, galt die Australierin als „schlimmste Serienmörderin“ des Landes. Den Unschuldsbeteuerungen der Mutter schenkte vor 20 Jahren weder die australische Polizei noch die Staatsanwaltschaft Glauben. Dass in einer Familie vier Kinder hintereinander sterben, hielt man für unwahrscheinlich. Denn: Wie viel Pech kann eine Familie haben? Dazu kam, dass Folbigg selbst aus einer vorbelasteten Familie stammte. Ihr Vater hatte ihre Mutter 1968 mit 24 Messerstichen getötet – angeblich, da er wütend war, wie sehr diese die damals 18 Monate alte Kathleen vernachlässigte.

Lesen Sie auch:Vorwürfe gegen Till Lindemann: Rammstein äußert sich

Kathleen Folbigg selbst wurde 2003 nach einem siebenwöchigen Prozess verurteilt. Das australische Gericht befand sie für schuldig am Mord beziehungsweise Totschlag ihrer Kinder Caleb, Patrick, Sarah und Laura. Diese waren alle im Alter von wenigen Wochen oder Monaten verstorben. Die Theorie lautete: Folbigg habe sie alle in Momenten der Frustration erstickt. Verdachtsmomente kamen vor allem auf, nachdem der Vater der Kinder Tagebücher seiner Frau bei der Polizei abgab. In diesen Tagebucheinträgen hatte Folbigg 1997 – nach der Geburt von Laura – geschrieben: „Ich hätte nicht mit einem weiteren wie Sarah umgehen können. Sie hat ihr Leben gerettet, indem sie anders war.“ Und: „Sie ist ein ziemlich gutmütiges Baby, Gott sei Dank, es wird sie vor dem Schicksal ihrer Geschwister retten. Ich glaube, sie wurde gewarnt.“

In einem weiteren Eintrag hieß es: „Bei Sarah wollte ich nur, dass sie den Mund hält. Und eines Tages hat sie es getan.“ Es half Folbigg auch nicht, dass sie im Prozess selbst behauptete, eine übernatürliche Macht habe ihr die Kinder weggenommen. Dazu kam, dass sie während der Verhandlungen kaum Emotionen gezeigt haben soll. Dies veranlasste Beobachter zu Vergleichen mit dem Prozess gegen die Australierin Lindy Chamberlain. Diese war zunächst wegen des Mordes an ihrem Baby Azaria verurteilt worden, obwohl sie stets beteuert hatte, ein Dingo habe das Kind entführt. Chamberlain wurde später ebenfalls begnadigt.

90 Forscher forderten Folbiggs Freilassung

2021 forderten 90 Wissenschaftler dann jedoch in einer Petition die Freilassung der Australierin. Die Forschenden argumentierten, dass neue Untersuchungen zeigen würden, dass einige der Kinder genetische Mutationen hatten, die sie für Herzkomplikationen anfällig machten. In ihren Augen führten diese Mutationen höchstwahrscheinlich zum Tod der Kinder. „Mein Team sequenzierte zuerst Folbiggs Genom aus Speichel und Proben, die von der Innenseite ihrer Wange entnommen wurden“, schrieb Carola Garcia de Vinuesa, eine Expertin der Australischen Nationaluniversität in Canberra, die die Untersuchung leitete und die Petition mit unterschrieben hat, im akademischen Online-Magazin „The Conversation“.

Lesen Sie auch:Ironman-EM in Hamburg: Motorradfahrer stirbt bei Unfall

Bei der Analyse habe sie herausgefunden, dass die Australierin Trägerin einer Mutation war, die häufig mit dem Plötzlichen Kindstod in Verbindung stand. Diese Mutation im CALM2-Gen steuert, wie Kalzium in und aus Herzzellen transportiert wird. Mutationen in diesem Gen sind eine der bekanntesten Ursachen für den Plötzlichen Kindstod. Nachdem die gleiche Mutation bei den verstorbenen Mädchen nachgewiesen werden konnte, schlussfolgerten die Forscher, dass die beiden wahrscheinlich einen plötzlichen Herzstillstand hatten. Auch die beiden Jungen litten nach Aussagen der Forscherin an Krankheiten, die auf einen natürlichen Tod hindeuteten. Einer hatte Atembeschwerden aufgrund von Problemen mit dem Kehlkopf, der zweite litt an epileptischen Anfällen.

Genetik: „Seltene Ereignisse an der Tagesordnung“

Obwohl einige der medizinischen Erkenntnisse 2003 noch nicht vorlagen, fühlen die Forscher, dass auch damals schon medizinische Experten zurate gezogen hätten werden können. Stattdessen sei Folbiggs Fall „aufgrund der Seltenheit solcher Ereignisse“ (Anm: vier Todesfälle in einer Familie) ausgewählt und ihre Tagebucheinträge als Beweis für ihre Schuld vorgelegt worden. „Ein solcher Ansatz übersieht, dass seltene Ereignisse vorkommen“, schrieb Garcia de Vinuesa. „Und in der Genetik sind seltene Ereignisse an der Tagesordnung.“

Lesen Sie auch:Forscher finden überraschende Zutat in da Vincis Gemälden

Der Richter Bathurst wies in seinen Ausführungen dann ebenfalls auf die genetische Mutation der Töchter hin. Auch die Epilepsie von Folbiggs Sohn Patrick wurde als mögliche Todesursache anerkannt. Bezüglich des vierten Kindes stellte Bathurst fest, dass „die Beweise für Zufälle und Tendenzen“, die 2003 genannt worden waren, nun wegfallen würden. Die Tagebucheinträge, die für ihre Verurteilung verwendet wurden, sah Bathurst in seiner Begründung als die Zeilen einer trauernden und möglicherweise depressiven Mutter, die sich selbst für den Tod jedes einzelnen Kindes verantwortlich machte, obwohl sie sie nicht selbst getötet hatte.

Kathleen Folbigg verließ das Gefängnis noch am Montag. Sie soll laut ihrer Unterstützer am Gefängnistor von ihrer Jugendfreundin Tracey Chapman empfangen worden sein. Bei dieser wird sie zunächst wohnen, um sich wieder an das normale Leben in Freiheit zu gewöhnen.