Berlin. Das RKI prognostiziert stark steigende Corona-Zahlen für die kommenden Wochen. Intensivmediziner und Pflege-Experten schlagen Alarm.

Lothar Wieler neigt nicht zu Alarmismus. Der Chef des Robert Koch-Instituts bewahrt selbst dann noch äußerlich Ruhe, wenn er ex­trem besorgt ist. Bei seinem jüngsten Auftritt am Freitagmorgen waren es allerdings bereits Sätze wie dieser, die aufhorchen ließen: „In manchen Intensivstationen steigen wieder die Zahlen.“

Am Abend veröffentlichte das RKI dann eine alarmierende Prognose, die sich über das Wochenende wie ein schriller Warnruf verbreitete: Um Ostern könnte die Lage düsterer werden als zu Weihnachten. Für die Woche nach den Ostertagen erwartet das RKI sogar eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz von über 300 Fällen auf 100.000 Einwohner. Droht jetzt der nächste harte Lockdown?

Hintergrund für die RKI-Prognose ist die Ausbreitung der hochinfektiösen Virusmutationen. Seit Anfang Januar beobachten die Experten bei der britischen Variante B.1.1.7 einen stetig ansteigenden Trend der Sieben-Tage-Inzidenz. Alle zwölf Tage habe sich diese verdoppelt. Die Folge ist mittlerweile bei der bundesweiten Gesamtinzidenz sichtbar: Am Samstag lag der Wert bereits bei rund 76 Fällen, am Sonntag bei 79 und am Montag bei rund 83. Der bundesweite R-Wert lag laut RKI-Lagebericht vom Sonntaggabend bei 1,33 (Vortag 1,19) – und damit klar über der kritischen Marke von 1,0. In den kommenden Tagen rechnet das RKI mit einem noch deutlich steileren Anstieg – mit Werten weit über der 100er-Inzidenz schon vor Ostern.

Corona-Fallzahlen: Kommt jetzt die Notbremse?

Steigt die Inzidenz über 100, kommt die Notbremse und das Land geht zurück in den harten Lockdown – das ist Beschlusslage zwischen Bund und Ländern. „Die konsequente Anwendung der Notbremse ist ein Muss“, schrieb SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach am Samstag auf Twitter. „Wer jetzt lockert, nimmt viele schwere und tödliche Verläufe in Kauf, besonders bei den 50- bis 80-Jährigen.“

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Am kommenden Montag wollen Bund und Länder über weitere Schritte beraten – doch bereits jetzt zeigt sich, dass es in den Ländern großen Deutungsspielraum mit Blick auf die Notbremse gibt. Brandenburg will erst bei Überschreiten der 200er-Marke harte Regeln einsetzen. In Nordrhein-Westfalen will die Landesregierung zunächst prüfen, welche Umstände zu der Überschreitung geführt haben. Denkbar sei ja, dass die steigende Inzidenz durch mehr Tests erzeugt werde. Sprich: Dass infizierte, aber symptomfreie Bürger die Zahlen steigen lassen – es aber nicht zu mehr Erkrankungen komme.

Der sonst so zurückhaltende RKI-Chef Wieler empfiehlt bei solchen Überlegungen dringend einen Blick auf die Intensivstationen: Es sei absehbar, dass die steigende Inzidenz auch zu steigenden Zahlen von schwer kranken Covid-19-Patienten führe.

Corona: Wie ist die Lage in den Kliniken?

In den meisten Bundesländern ist der zuletzt hoffnungsvolle Rückgang der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen laut RKI gestoppt, stattdessen stagniert die Belegung aktuell in vielen Ländern. Ein Drittel verzeichne sogar schon wieder einen leichten Anstieg. Eine heikle Entwicklung, denn: Infektionen mit der Virusvariante B.1.1.7 sind nicht nur deutlich ansteckender, sondern führen vermutlich auch zu schwereren Krankheitsverläufen. Hinzu kommt: Die dritte Welle trifft in den Krankenhäusern auf erschöpfte Teams, auf Personalmangel und chronische Überlastung.

Deutschlands Intensivärzte fordern daher schon vor dem kommenden Corona-Gipfel eine sofortige Rückkehr in den Lockdown. „Von den Daten, die wir jetzt haben und sehen und mit dem Durchsetzen der britischen Mutante würden wir sehr stark dafür plädieren, jetzt sofort wieder in einen Lockdown zu gehen, um einfach eine starke dritte Welle zu verhindern“, sagte der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, am Montag im rbb-Sender Radioeins. DIVI ist die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Die Belastung für das Personal auf den Intensivstationen sei bis heute ohne Unterbrechung sehr hoch und steige nun wieder weiter. Es gelte, sich in den Sommer zu retten, sagte Karagiannidis, der selbst Arzt an einer Kölner Lungenklinik ist.

Reicht das Pflegepersonal für die dritte Welle?

Intensivbetten, Sauerstoffgeräte, Hightech-Monitore – das alles hilft schwer kranken Patienten nur dann, wenn es genügend Fachkräfte gibt, die damit auch umgehen können. Anders gesagt: Die nackte Zahl vorhandener Intensivbetten in einer Region sagt noch nichts über die tatsächlichen Reserven. Auch deshalb schlagen Intensivmediziner und Pflegeexperten jetzt Alarm.

„Die Krise der deutschen Pflege hat sich durch die Corona-Pandemie jetzt noch einmal erheblich verschärft und wird sich weiter verschärfen“, sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), unserer Redaktion. „Wir müssen die Flucht aus dem Pflegeberuf unbedingt stoppen.“

In der beginnenden dritten Welle der Covid-19-Pandemie hielten die Pflegenden derzeit aus Pflichtgefühl noch durch, die Frage sei aber, was danach komme, so Marx. Umfragen zeigten, dass 32 Prozent der Pflegenden derzeit überlegten, aus dem Beruf auszusteigen.

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung zeigte sich ebenfalls alarmiert von der Entwicklung: Aufgrund der momentanen Arbeitsbedingungen spielten zahlreiche Pflegende mit dem Gedanken, aus ihrem Beruf auszusteigen, sagte Andreas Westerfellhaus. „Das hätte katastrophale Folgen für unsere Gesundheitsversorgung.“ (mit dpa)