Berlin. Eltern sind gestresst, weil sie immer für ihre Kinder erreichbar sind. Unsere Autorin meint: Eltern müssen lernen mal abzuschalten.
Eltern befinden sich laut einer neuen Umfrage in der dauernden Anspannung aktiv, erreichbar und für alle Alltagsfragen (von Lehrern, Chefs, Busfahrern, Kassieren, Babysittern, Großeltern) ein patenter Ansprechpartner zu sein.
Auf der Suche nach einer Betroffenen (Vater oder Mutter egal) werde ich bei einem Blick in den Spiegel fündig. Es ist halb 10 Uhr, ich stehe in einem Coffeeshop in Berlin-Mitte und zeichne meinen Wimpernkranz mit einem Kajalstift nach. Ich bin jetzt fast vier Stunden wach und habe eine Minute zum Schminken gefunden. Meine Laptoptasche klemmt zwischen meinen Stiefeln.
Um sechs klingelt mein Wecker, ab da brenne ich an beiden Enden: Kinder wecken, Brote schmieren, das Geburtsgeschenk für Tim (Kindergeburtstag nach der Schule) einpacken (Ja, hätte ich abends schon machen können), Kleid bügeln, Tasche packen, Zähneputzen, Jacken anziehen – und garantiert fällt meinem Sohn (2. Klasse) an der Tür noch ein, dass ich das Diktat noch unterschreiben muss und er eine Vollmacht für den Kindergeburtstag am Nachmittag braucht.
Was das Weihnachtsspiel? Ein Eselskostüm? Schon nächste Woche?
Wenn wir dann alle im Auto sitzen und ich den Schlüssel umdrehe, rast mein Herz. Der ständige Kampf mit den Kindern, Druck im Job und dazu noch „das bisschen Haushalt“, wie es im 70er-Jahre-Schlager heißt: Fast 40 Prozent der Eltern mit Nachwuchs unter 18 Jahren fühlen sich häufig oder sehr häufig gestresst. Das geht aus einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) hervor.
Der Hauptauslöser für den Stress sollen demnach Konflikte in der Familie (30 Prozent) sein. Gut jeden Vierten (27 Prozent) setzt das Gefühl unter Druck, ständig erreichbar sein zu müssen – oder zu wollen. Dies gilt für das berufliche E-Mail-Postfach genauso wie für private WhatsApp-Gruppen.
„Flexibilität, Bereitschaft zu Wochenenddiensten und Reisen, hohe Belastbarkeit heißt es in Stellenbeschreibungen. Das führt dazu, dass in Zeiten steigender Mieten und unzureichender staatlicher Betreuung, miesen Schul- und Kita-Schließzeiten beide Eltern arbeiten und dazu noch jeden Tag disponieren müssen. Halbe Stunde früher los, weil Schulfest ist, die drei Euro für den Basteligel nicht vergessen, Lara hat heute Ballett, Paul muss um 17 Uhr zum Zahnarzt. Was? Du brauchst ein Kostüm für das Weihnachtsspiel? Der Esel? Und das schon nächste Woche?
Eltern rennen wochentags, überschlagen sich, laufen allem hinterher
Eltern rennen wochentags, überschlagen sich, laufen allem hinterher. Das moderne Leben zwingt sie dazu. Und weil das alles mit einer normalen Familienplanung mit zuverlässigen Zeiten unvereinbar ist, benutzen wir mittlerweile dieselben Kommunikationsinstallationen, die es uns ermöglichen, unseren Arbeitsalltag mit den Kollegen zu strukturieren.
Da gibt es zum Beispiel das Trello-Board als Familienkalender, die Slack-Gruppe des Kindergartenvorstandes, die WhatsApp-Familiengruppe oder die Erinnerung auf dem Handy des Schulkindes, es möge doch bitte den Turnbeutel mit den verschwitzten Sachen nach Hause bringen. Tagsüber im Büro bestelle ich am Nachmittag über eine Webseite Lebensmittel, die meine Familie dank Prime-Lieferdienst, zwei Stunden später am Abend essen wird. Immerhin, ich sehe die Bildchen und bestimme den Vitamingehalt mit.
Das klingt tatsächlich zu grotesk, um wahr zu sein, ist allerdings völlig normaler Alltag von Millionen Deutschen mit Kindern – und international ist es vielleicht noch schlimmer. Dazu kommt, dass 30 Prozent aller 12-Jährigen bereits ein Handy besitzen, was die unterschwellige Verpflichtung verheißt, für das Kind mit Trackingfunktion auch rund um die Uhr erreichbar zu sein.
Verweigert euch den WhatsApp-Gruppen!
Ist das alles nötig? Als Mutter, die sich im Strudel dieser Gegebenheiten nicht verlieren darf, sage ich: nein. Schwierig, aber es geht. Wie? Nun, indem man manche Dinge einfach konsequent lässt. Plätzchen zur Weihnachtszeit? Backt die Oma mit den Kindern! Der Weihnachtszirkus kommt in die Stadt? Ein toller Ausflug mit Papa! Den Bastelnachmittag in der Schule haben wir geschwänzt, einen Weihnachtsbaum sparen wir uns dieses Jahr, wir feiern eh bei den Verwandten in Süddeutschland.
Geschenke werden geschnitzt (Danke an die Holzwerkstatt der Schule), manchmal reicht auch ein Blick in die Schränke, Weihnachtsfeiern sage ich wegen Terminproblemen grundsätzlich ab. Eine Ausrede zu finden ist übrigens nur zu leicht: „Die Kinder, der Schnupfen...ach, Sie wissen ja wie es ist.“ Das habe ich übrigens vor Jahren von meinem Vater gelernt. Dieser pflegt alterweise zu sagen: „Sag ab, schieb’s auf die Kinder. Wozu hast Du sie denn?“
Unser Autorin schreibt unter anderem in ihrer Kolumne „Single Mom“ über das Thema Erziehung: