Nizza. Bei dem Anschlag in Nizza starben mindestens 84 Menschen. Über den LKW-Fahrer wird immer mehr bekannt – doch war er wirklich Islamist?
Wieder trifft der Terror Frankreich, diesmal die südfranzösische Stadt Nizza. Ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag. Noch sind viele Fragen offen. Ein Überblick:
• Was ist passiert?
Ein Angreifer hat in Nizza Hunderte von Menschen auf einer Strandpromenade mit einem gemieteten 19-Tonnen-Lkw überfahren. Gegen 23 Uhr am Donnerstagabend raste er in die Menschenmenge, die auf der Flaniermeile Promenade des Anglais den französischen Nationalfeiertag feierte. Die Menschen wollten sich in dem Küstenort nahe der italienischen Grenze das Feuerwerk zum 14. Juli ansehen. Der Angreifer war mit seinem schweren Lastwagen zwei Kilometer über den Bürgersteig gerast. Dabei hat er auch in die Menge geschossen.
Auch ARD-Reporter Richard Gutjahr berichtete im „Nachtmagazin“ von einem Schusswechsel und chaotischen Szenen rund um die Uferpromenade in Nizza. Später twitterte Nizzas Bürgermeister Christian Estrosi vom „schlimmsten Drama in der Geschichte von Nizza“. Das Viertel rund um die Promenade wurde komplett abgeriegelt, zahlreiche Polizisten patrouillierten. Auch Hubschrauber waren im Einsatz.
Il s'agit du pire drame de l'histoire de Nice car plus de 70 victimes sont déjà à déplorer.
— Christian Estrosi (@cestrosi) July 14, 2016
Bei dem Angriff starben mindestens 84 Menschen, darunter auch Kinder. 202 Verletzte sind von Gesundheitseinrichtungen versorgt worden. 52 von ihnen schwebten am Freitag nach Angaben einer Abteilung des Pariser Gesundheitsministeriums in Lebensgefahr, davon lagen 25 auf der Intensivstation. Präsident François Hollande hatte zuvor gesagt, dass noch etwa 50 Menschen an der Schwelle „zwischen Leben und Tod“ seien.
Auch der Angreifer lebt nicht mehr. Der Fahrer sei niedergeschossen worden, sagte Unterpräfekt Sébastien Humbert dem Sender BFMTV. Fotos des Lkw zeigen ein zerbeultes und von Einschusslöchern durchsiebtes Führerhaus.
• Gibt es auch Opfer aus Deutschland?
Drei Menschen aus Berlin werden noch vermisst. „Zwei Schülerinnen und eine Lehrerin werden vermisst. Hier können wir nur hoffen, dass sich nicht das Schlimmste bewahrheitet“, teilte die Senatsschulverwaltung am Freitag mit. Medienberichte über Todesfälle könnten nicht bestätigt werden. Eine weitere Schülerin sei verletzt worden. Das Mädchen liege im Krankenhaus.
Insgesamt seien zehn Schülergruppen in Nizza gewesen. „Viele Schülerinnen und Schüler sind schockiert und traumatisiert. Wir sind in sehr engem Kontakt mit unseren Schulen, und unsere Schulpsychologen betreuen die Schulen.“ Die Senatsschulverwaltung veröffentlichte eine Liste von neun Schulen, aus denen Lehrer und Schüler in Nizza sind oder waren, aber nicht verletzt wurden.
„Unser Leistungskurs Deutsch ist in Sicherheit“, teilte die Wilma-Rudolph-Oberschule aus Berlin-Zehlendorf am Freitag auf ihrer Internetseite mit. Das gelte für alle Schüler und die beiden Lehrerinnen.
Das Auswärtige Amt hatte deutsche Opfer nicht ausgeschlossen. „Nach Auswertung aller bisher vorliegenden Informationen können wir nicht ausschließen, dass auch Deutsche betroffen sind“, teilte eine Sprecherin am Freitag in Berlin mit. Ein Konsularteam des Generalkonsulats Marseille sei auf dem Weg in die südfranzösische Küstenstadt, um vor Ort die Lage aufzuklären und gegebenenfalls betroffenen Deutschen Hilfe und Beistand zu leisten.
#Nizza: Können nicht ausschließen, dass auch Deutsche betroffen sind. Konsularteam ist auf dem Weg, um ggfs. Betroffenen Hilfe zu leisten.
— Auswärtiges Amt (@AuswaertigesAmt) 15. Juli 2016
Unser #LKA prüft derzeit gemeinsam mit den zuständigen Behörden, ob Berliner unter den Opfern sind. #Nice ^tsm https://t.co/B1xMSmZTHK
— Polizei Berlin (@polizeiberlin) 15. Juli 2016
Der Attentäter von Nizza ist identifiziert. Wie die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Polizeikreise am Freitag berichtete, soll es sich um den 31 Jahre alten Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel handeln, der in Nizza wohnte. Im Lastwagen seien entsprechende Papiere gefunden worden, berichtet die Zeitung „Nice Matin“. Anfangs war unklar, ob es tatsächlich die Papiere des Täters sind. Die Wohnung des Mannes wurde durchsucht.
Lahouaiej-Bouhlel war mit einer Franko-Tunesierin verheiratet und hatte drei Kinder. Er ging zum Bodybuilding und mochte Salsa. Doch die Ehe ging in die Brüche und er hatte Probleme mit der Justiz. Dazu kamen wohl Finanzprobleme. „Ihm wurde ein Kredit verweigert und er wurde immer aggressiver“, sagte ein Bekannter „Nice Matin“.
Nach Aussage seines Vaters war der Attentäter als Jugendlicher wegen psychischer Probleme in ärztlicher Behandlung. Er hatte demnach zwischen 2002 und 2004 auch einen Nervenzusammenbruch erlitten. „Er wurde cholerisch, er schrie, schlug alles kaputt, was er fand“, sagte der Vater Mohamed Mondher Lahouaiej-Bouhlel an seinem Wohnort Msaken bei Sousse im Osten Tunesiens der Nachrichtenagentur AFP.
Ein Arzt habe dem Anfang 1985 geborenen Sohn damals Medikamente verschrieben, sagte der Vater weiter. Die Familie habe mit dem Sohn kaum noch Kontakt gehabt, nachdem dieser nach Frankreich gegangen war. Das Datum des Wegzugs vermochte der Vater dem Bericht vom Freitagabend zufolge nicht zu nennen. Er versicherte aber, dass sein Sohn nicht religiös gewesen sei. „Er betete nicht, er fastete nicht, er trank Alkohol und nahm sogar Drogen“, sagte der Vater. „Auch wir sind schockiert“, fügte er hinzu.
Lkw fährt in Menschenmenge in Nizza
Staatspräsident François Hollande sagte, es gebe keine Zweifel an der terroristischen Natur der Attacke, das ganze Land sei vom islamistischen Terror bedroht. Auch der französische Innenminister Cazeneuve sagte: „Wir sind in einem Krieg mit Terroristen, die uns um jeden Preis wehtun wollen.“ Und Premierminister Manuel Valls sagte dem Sender France 2 am Freitag: „Das ist ein Terrorist, der ohne Zweifel auf die eine oder andere Weise mit dem radikalen Islamismus verbunden war.“
Bisher ist aber unklar, ob der Täter wirklich einen islamistischen Hintergrund hatte. Französischen Polizeiquellen zufolge gebe es Hinweise auf eine Radikalisierung des getöteten Attentäters. Ergebnisse der Vernehmungen der bisher fünf Festgenommen deuteten auf ein „jüngstes Abgleiten in Richtung radikaler Islam“ bei dem 31-jährigen Tunesier hin, meldete die Nachrichtenagentur AFP am Samstag. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) habe dabei anscheinend noch keine Rolle gespielt, habe es aus Polizeiquellen geheißen. Zunächst hatte es geheißen, der Täter sei nicht radikalisiert gewesen sein.
Der IS vereinnahmt Lahouaiej-Bouhlel unterdessen als „Soldaten“ und feiert ihn auf Kanälen, die der Terrormiliz nahestehen. Der Angriff sei eine Folge des IS-Aufrufs, Angehörige der Anti-IS-Koalition anzugreifen, heißt es darin. Eine Mitteilung vom Samstag enthält jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass der IS die Pläne des Attentäters kannte. Dem französischen Geheimdienst war Mohamed Lahouaiej-Bouhlel laut Pariser Staatsanwaltschaft zudem „vollkommen unbekannt“ und stand auf keiner Gefährderliste.
Seine Nachbarn erklärten französischen Medien, er sei zwar Muslim, aber nicht sonderlich religiös gewesen und in kurzen Hosen herumgelaufen. Allerdings war auch der Terrorist Mohammed Merah, der 2012 in Toulouse und Montauban im Namen des Islams gemordet hatte, ähnlich beschrieben worden.
Sicher ist: Lahouaiej-Bouhlel neigte zur Gewalt und war vorbestraft. Erst im März wurde er zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er nach einem Verkehrsunfall eine Holzpalette auf seinen Unfallgegner geworfen hatte. Schon seit 2010 war er mit Drohungen, Diebstählen und Sachbeschädigungen aufgefallen. Gewalttätig soll er auch zu seiner Frau gewesen sein. Er kam aber nicht ins Gefängnis und zum Zeitpunkt der Tat hatte die Justiz ihn nach Angaben des Justizministeriums nicht mehr auf dem Radar.
Seinen Lkw-Führerschein soll der Franko-Tunesier erst kurz zuvor gemacht haben. Und er hatte sich laut Staatsanwaltschaft eine automatische Pistole besorgt, mit der er bei seinem Anschlag auf Menschen schoss. Was ihn dazu trieb, darüber erhoffen die Ermittler Aufschluss aus der Auswertung der Daten der elektronischen Geräte, die bei der Durchsuchung der Wohnungen beschlagnahmten worden waren, in denen der Tunesier sich zuletzt aufgehalten hatte.
• Wie erlebten Augenzeugen den Anschlag?
Ein Augenzeuge sagte dem französischen Sender, der Fahrer habe eine blaue Uniform getragen. Zunächst hätten er und ein anderer Passant angenommen, dass der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hätte. Erst später hätten sie realisiert, dass er willentlich in die Menschenmenge gerast war.
Der „Nice-Matin“-Journalist Fabien Allemand erlebte die schockierenden Szenen hautnah. Gegenüber „Le Figaro“ schilderte er: „Er riss das Lenkrad rum, um ein Maximum der Menschen zu treffen. Ich habe Körper gesehen, die wie Bowling-Kugeln aus dem Weg flogen. Geräusche gehört, Schreie, die ich nie vergessen werde. Ich war wie erstarrt.“
• Wie reagiert Frankreich?
Präsident Hollande hat eine dreitätige Staatstrauer angeordnet. Das verkündete Premierminister Manuel Valls am Freitag nach einem Treffen des Sicherheitskabinetts im Pariser Élyséepalast. Von Samstag bis Montag sollen die Flaggen auf Halbmast hängen.
Frankreich war wiederholt Ziel von Anschlägen. Bei islamistischen Attentaten waren im vergangenen Jahr 149 Menschen gestorben, davon 130 bei der Pariser Terrorserie am 13. November 2015. Eigentlich hatte Staatspräsident François Hollande den seither geltenden Ausnahmezustand aber zum 26. Juli beenden wollen. Das hatte er am Donnerstag kurz vor dem Attentat verkündet. Nach dem Anschlag in Nizza berief er in Paris umgehend einen Krisenstab ein.
Noch in der Nacht erklärte Hollande in einer Ansprache an die Nation, der nach den Anschlägen von Paris über das Land verhängte Ausnahmezustand werde nun doch um drei Monate verlängert. Schon am kommenden Dienstag soll die angekündigte Verlängerung im Kabinett sowie am Mittwoch und Donnerstag vom Parlament beraten werden. „Wir müssen alles tun, um die Geißel des Terrorismus zu bekämpfen“, sagte der Staatschef in Paris.
Zusätzliche Sicherheitskräfte sind im Einsatz. In Nizza wurden ein Konzert von Rihanna und das bevorstehende Jazz-Festival abgesagt.
(Die französischen Behörden haben ein Krisentelefon eingerichtet für Menschen, die Angehörige in Nizza haben: +33 049 372 222 2)
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