Peking. Mehrmals die Woche müssen Kinder in China eine 800 Meter hohe Felswand hinauf klettern. Doch nun scheint die Regierung einzulenken.
Eine steile Felswand, rund 800 Meter hoch – das ist bislang der Schulweg für rund ein Dutzend Schülerinnen und Schüler aus dem Dorf Atula in der südwestchinesischen Provinz Sichuan. Der Fotograf Chen Jie von der Pekinger Tageszeitung „Beijing News“ hat diesen Schulweg dokumentiert und die Bilder vergangene Woche ins Netz gestellt. Prompt löste die Zeitung landesweit Empörung aus. Mehr als 150 Millionen Mal wurde die Bilderstrecke angeklickt.
Auf den Bildern ist zu sehen, wie rund ein Dutzend Schulkinder mit ihren Ranzen auf dem Rücken eine rostige Leiter hinabsteigen. Auf einem anderen Bild ist nur eine wackelige Leiter aus Bambus und Weinstöcken zu sehen. Die gefährlichste Stelle ist ein schmaler Pfad, auf dem gar keine Leiter zu sehen ist, sondern nur der blanke Felsen, gelegentlich bewachsen mit Grasbüscheln, an die sich festzuhalten der sichere Absturz bedeuten würde. Obwohl die Schüler und Schülerinnen diesen Weg schon häufig nehmen mussten, wirken sie auf den Bildern alles andere als routiniert. Einigen von ihnen ist die Angst anzusehen.
Knapp zwei Stunden unter lebensgefährlichen Bedingungen benötigen die 6- bis 15-jährigen Schüler, um von dem Dorf hoch in den Bergen zur nächstgelegenen Schule zu gelangen, die sich unten im Tal befindet, wird Fotograf Chen Jie in der Zeitung zitiert. Einer Reporterin des chinesischen Staatsfernsehens CCTV, die nach diesem Bericht ebenfalls das Dorf aufsuchen und darüber berichten wollte, kamen die Tränen, als sie am Fuße des Felsens stand. „Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte sie verzweifelt vor laufender Kamera. Sie selbst traue sich nicht, hochzuklettern.
Für den Bau einer Schule sind die Menschen zu arm
Zwar herrscht in China bereits seit Jahrzehnten landesweit Schulpflicht. Doch in einigen abgelegenen Bergregionen setzen die Behörden diese Pflicht erst seit einigen Jahren durch – mit zuweilen abstruser Hartnäckigkeit. Das Dorf Atula zählt gerade einmal 72 Familien. Der Bau einer eigenen Schule lohnt aus Sicht der Lokalbehörden nicht. Die Menschen in Atula haben im Durchschnitt einen Tageslohn von etwa 70 Cent am Tag, was die private Finanzierung einer Schule komplett undenkbar macht. So müssen die Schüler den angsteinflößenden Weg ins Tal auf sich nehmen. Dieses Unterfangen findet allerdings nicht täglich statt. Die Kinder dürfen maximal zweimal im Monat und in den Sommerferien sowie an den Feiertagen rund um das chinesische Neujahrsfest nach Hause. Die restliche Zeit leben sie in einem Wohnheim im Tal.
Das Dorf Atula ist keineswegs ein Einzelfall. Zwar gibt es kein anderes Land, das in den vergangenen Jahren so kräftig in den Ausbau der Infrastruktur investiert hat, allerdings keineswegs flächendeckend. Das gesamte Land ist inzwischen durchzogen mit Tausenden von Kilometern an Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge und moderne Autobahnen. Doch vor allem viele Grenzregionen und die bergigen Gegenden im Westen und Südwesten Chinas, wo viele ethnische Minderheiten leben, sind noch immer so unterentwickelt, dass oft nicht einmal eine Straße zu ihren Dörfern führt.
Acht Dorfbewohner abgestürzt
Warum die lokalen Behörden für das Dorf Atula bislang nicht einmal eine Stahltreppe, geschweige denn einen festen Weg errichtet haben, kann sich Dorfvorsteher Api Jipi trotzdem nicht erklären. Acht Dorfbewohner seien in den vergangenen Jahren abgestürzt und ums Leben gekommen, berichtet Dorfvorsteher Jipi. Viele hätten sich beim Auf- oder Abstieg verletzt. Er selbst habe ebenfalls schon mal um sein Leben fürchten müssen.
Nach diesem landesweiten Aufschrei haben die Lokalbehörden nun aber reagiert und den Bau einer provisorischen Stahltreppe zugesagt. Sie versprachen darüber hinaus, an einer dauerhaften Lösung zu arbeiten. Zudem verfügten sie, dass die Kinder bis zur Fertigstellung der Stahltreppe in ein paar Wochen im Tal bleiben und nicht mehr nach Hause dürfen. Schließlich wolle man keinen Absturz riskieren.