Straßburg. . Seit 2008 liegt der 38-jährige im Wachkoma. Seine Familie streitet erbittert vor Gericht – künstliche Ernährung weiterführen oder einstellen? Jetzt entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

„Von Freude kann keine Rede sein, nicht einmal von Erleichterung. Aber wenigstens kann nun dem Willen meines Mannes entsprochen werden“, seufzt Chantal Lambert nach der Urteilsverkündung. Ihr Blick geht hinüber zu ihrer Schwiegermutter, die mit steinerner Miene den Kopf schüttelt.

Soeben hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass Chantals Ehemann Vincent Lambert sterben darf. Der 38-Jährige dämmert schon seit einem schweren Verkehrsunfall im März 2008 querschnittsgelähmt im Wachkoma dahin. Sein Schicksal sorgt in Frankreich seit beinahe drei Jahren für heftige Diskussionen und hat seine Familie völlig entzweit.

Ende 2012 hatten Lamberts Ärzte im Klinikum von Reims gemeinsam mit der Ehefrau beschlossen, die künstliche Ernährung des Komapatienten einzustellen. Auch zwei seiner Geschwister hatten sich für diesen Schritt ausgesprochen. Doch die streng katholischen Eltern Vincents sowie zwei weitere seiner Geschwister schalteten die Justiz ein, weil sie einen Stopp der lebensverlängernden Maßnahmen als „verkappte Euthanasie“ ansehen.

Irreparable Gehirnschäden

Nach langem Rechtsstreit gab schließlich der Staatsrat, Frankreichs oberstes Verwaltungsgericht, den Ärzten Recht. Im Juni 2014 entschied er, dass eine künstliche Lebensverlängerung des Komapatienten unzumutbar sei. Das Gericht stützte sein Urteil auf mehrere ärztliche Gutachten, die Lambert sowohl irreparable Gehirnschäden attestiert als auch seinen Zustand wegen einer weitgehenden Bewusstlosigkeit als „vegetativ“ eingestuft hatten.

Lamberts Eltern bezeichneten den Spruch als einen Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und strengten umgehend eine Klage wegen des Verstoßes „gegen das Recht auf Leben und das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung“ vor dem EGMR an. Eine Klage, die dessen Richter am Donnerstag mit zwölf zu fünf Stimmen zurückgewiesen haben. Zwar kündigte der Anwalt von Lamberts Eltern weitere rechtliche Schritte an, „um das Leben von Vincent doch noch zu retten“, doch ein Einspruch gegen ein EGMR-Urteil ist nicht möglich.

„Qualvoll verdursten lassen“

Dass Vincent Lambert keine Patientenverfügung gemacht hatte, gestaltet den Fall besonders problematisch. Nach Angaben seiner Frau soll der frühere Krankenpfleger vor seinem Unfall mehrfach geäußert haben, dass er lebensverlängernde Maßnahmen ablehne. Seine Eltern hingegen haben das stets bestritten.

Wie in Deutschland können Ärzte auch in Frankreich zusammen mit den Angehörigen lebensverlängernde Maßnahmen abbrechen, um unheilbar Kranke sterben zu lassen. Allerdings ist die aktive Sterbehilfe in Frankreich ebenso verboten wie in Deutschland und fast allen anderen europäischen Staaten. Vincents Mutter Viviane rief gestern in Erinnerung, was das bedeutet: „Sie werden meinen Sohn qualvoll verdursten und verhungern lassen. Dass der EGMR so etwas absegnet, ist ein Skandal!“