Washington/Boston. Boston-Marathon-Attentäter Zarnajew wurde in allen 30 Anklagepunkten schuldig gesprochen. Für seine Anwälte beginnt der Kampf gegen die Todesstrafe.

Der erste Teil des Prozesses um den Terroranschlag auf den Boston-Marathon vor fast genau zwei Jahren, bei dem drei Menschen getötet und über 260 schwer verletzt worden waren, ist gestern mit dem erwarteten Schuldspruch für Dschohar Zarnajew zu Ende gegangen.

Der heute 21-jährige Student mit ethnischen Wurzeln im Kaukasus, ist aus Sicht der zwölf Geschworenen in allen 30 Anklagepunkten schuldig. Für ihn geht es ab sofort um Tod oder Leben.

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Die Anfang des Jahres mühevoll ausgewählte Jury kam nach elfstündigen Beratungen zu dem notwendigerweise einstimmigen Urteil. Als Gerichtsdiener Paul Lyness ab 14.05 Ortszeit das umfassende Urteil verlas, entlud sich eine Welle der stillen Erleichterung im Zuschauerraum des Bostoner Gerichtskomplexes. Zarnajew selbst nahm den Ausgang mit ausdruckslosem Gesicht und gefalteten Händen zur Kenntnis.

17 Anklagevorwürfe, darunter der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, sind mit der Todesstrafe bewehrt. Und genau darum geht es ab sofort in Phase zwei des Mega-Verfahrens, das nach Einschätzung von Rechtsexperten bis in den Frühsommer dauern und noch viele Überraschungen bieten kann. Muss Zarnajew für seine Taten durch die Giftspritze sterben - oder wird seine Schuld mit lebenslänglicher Haft in einem Hochsicherheits-Gefängnis bestraft?

Verteidiger wollen Exekution verhindern

Für die Geschworenen beginnt ein neuer Abwägungsprozess. In diesem Rechts-Marathon, der einem neuen Prozess mit Zeugen und Beweismitteln gleicht, ist ebenfalls Einstimmigkeit vorgeschrieben. Sind am Ende theoretisch elf Geschworene für die Todesstrafe und nur eine(r) nicht, geht Zarnajew automatisch für den Rest seines Lebens ins Gefängnis.

Die letzte Hinrichtung im Bundesstaat Massachusetts, in dem Boston liegt, wurde 1947 vollzogen. 1984 wurde die Todesstrafe durch demokratischen Volksentscheid abgeschafft. Weil der Boston-Marathon-Prozess wegen der Schwere der Tat auf Bundesebene angesiedelt ist, kann trotzdem die umstrittene „death penalty“ verhängt werden. Der scheidende Justizminister Eric Holder in Washington hat es ausdrücklich erlaubt. Die Bevölkerung in dem moderat-liberalen Ostküsten-Staat ist nach jüngsten Umfragen aber weiter für eine lebenslange Haftstrafe. Nur ein Drittel spricht sich für Zarnajews Tötung aus.

An dieser Stelle setzt das Verteidiger-Team mit Judy Clarke, Bill Fick und David Bruck an. Das hochkarätige Trio will Zarnajew in der voraussichtlich in der nächsten Woche beginnenden Phase der Strafzumessung vor der Exekution bewahren. Clark, eine der erfahrensten Juristinnen in diesem Feld, hatte schon kurz nach Prozess-Eröffnung eingeräumt, dass ihr Mandant schuldig ist. „Er war es“, sagt sie. Allerdings sei nicht er, sondern sein bei einer Verfolgungsjagd von der Polizei getöteter Bruder Tamerlan der Drahtzieher gewesen.

Angehörige reagieren gefasst

Er sei die treibende Kraft hinter dem teuflischen Plan gewesen, am Tag des Marathonlaufs zwei mit Metallsplittern und Nägeln gefüllte Druckkochtöpfe nahe der Ziellinie explodierten zu lassen, wo sich Zehntausende sportbegeisterte Fans aufhielten. Er soll seinen damals 19-jährigen Bruder über Monate indoktriniert haben, um Vergeltung zu üben gegen Amerika für deren Militäraktionen in der islamischen Welt. „Ohne Tamerlan wäre das nie geschehen“, hatte Clark in ihrem Schluss-Plädoyer betont und die Jury gebeten, bei allen verständlichen Emotionen einen „freien Geist“ zu bewahren.

Chefankläger Aloke Chakravarty hielt bis zuletzt dagegen. Er beschrieb die Zarnajews als zu gleichen Teilen an dem schlimmsten Attentat auf US-Boden seit dem 11. September 2001 beteiligt gewesen. Um die Kaltblütigkeit des von tschetchenischen Eltern in Boston großgezogenen Dschohar Zarnajew zu illustrieren, zeigte der Staatsanwalt den Geschworenen ein schwer erträgliches Foto. Es zeigt, wie Zarnajew wenige Meter hinter Martin Richard eine der beiden Bomben abstellte. Der Achtjährige wurde durch den Sprengsatz förmlich zerrissen. Bis heute hat Zarnajew nicht den Hauch von Reue erkennen lassen.

Die Angehörigen der vier Todesopfer - Lingzi Lu, Martin Richard und Krystle Marie Campbell starben im Zieleinlauf an der Boylston Street, der Wachmann Sean Collier wurde später während der Flucht der Brüder Zarnajew erschossen - nahmen die Entscheidung der Jury gestern gefasst auf. Sie wissen: Wenn Richter George A. O‘Toole Kr. die Geschworenen zusammenruft, geht die Rückschau auf einen der schlimmsten Tage in der jüngeren amerikanischen Geschichte von vorn los.