Berlin. Vor sieben Jahren erschoss ein 19-jähriger Ex-Gymnasiast in Erfurt kaltblütig in zehn Minuten 16 Menschen. Was hat sich in Deutschland seitdem geändert?

Der Amoklauf in einer Realschule in Baden-Württemberg mit mindestens elf Toten erinnert an das grausige Schulmassaker in Erfurt. Dort erschoss vor sieben Jahren ein 19-jähriger Ex-Gymnasiast kaltblütig in zehn Minuten 16 Menschen. Die beispiellose Bluttat traf die Gesellschaft damals bis ins Mark. Der Aufschrei war groß, die Betroffenheit tief, Politiker verlangten einschneidende Konsequenzen. Doch was hat sich in Deutschland seitdem geändert?

Auf den ersten Blick wenig: Noch immer klagen Schulen über Lehrermangel und zu wenig Schulpsychologen. Noch immer stöhnen Jugendliche über Gewalt unter Schülern und wachsenden Leistungsdruck im Unterricht. Und noch immer gibt es die Debatte um Gewalt in Computerspielen.

Schärferes Waffenrecht und härtere Jugendschutzgesetze

Schnell ins Gespräch kamen 2002 unter anderem die Heraufsetzung der Volljährigkeit auf 21 Jahre, eine Verschärfung des Waffenrechts sowie das Verbot von Gewaltfilmen und blutrünstigen Computerspielen, denn letztere hatte auch der Erfurter Amokläufer Robert Steinhäuser konsumiert.

Einiges davon wurde umgesetzt. Wie schon zuvor Filme, werden nun auch Computerspiele nur gemäß ihres Alters freigegeben; Käufer von Ballerspielen müssen also mit Ausweiskontrollen rechnen. Ob dies im Zeitalter von CD-Brennern und Internet den Zugang wirksam begrenzt, erscheint indes zweifelhaft.

Der Bundestag verschärfte auch das Waffenrecht. Sportschützen - Steinhäuser war einer von ihnen - dürfen nun erst ab 21 Jahren Gewehre oder Pistolen besitzen. Für Jäger wurde die Altersgrenze für den Besitz von Schusswaffen von 16 auf 18 Jahre angehoben. Bei Personen unter 25 Jahren wird zudem ein Eignungstest zur Voraussetzung für den Waffenbesitz gemacht. Steinhäuser hatte vor sieben Jahren seine Pistole und die Pumpgun ordnungsgemäß im Laden gekauft.

Doch auch diese Maßnahmen stoßen bei Experten weiter auf Skepsis, denn die größere Gefahr im Alltag bilden die vielen illegalen Waffen. Laut Polizeistatistik sind Schuss-Tatwaffen in der Regel nur zu zehn Prozent legal im Besitz der Täter.

Weiter zu wenig Schulpsychologen

Schon zwei Tage nach den Todesschüssen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sagte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily: «Ich bin der Meinung, dass jede Schule einen eigenen Schulpsychologen braucht.» Doch ein Jahr später zog Bernd Jötten, Vorsitzender der Sektion Schulpsychologen im Berufsverband Deutscher Psychologen eine ernüchternde Bilanz: Die Unterversorgung mit staatlichen Schulpsychologen habe sich nur marginal verändert. Zwar seien vereinzelt neue Stellen geschaffen worden, aber im Vergleich zu anderen Ländern sei das immer noch viel zu wenig.

In Thüringen gab es zudem eine schnelle Änderung des Schulgesetzes. Die Gymnasiasten dort können nun am Ende der 10. Klasse eine Prüfung ablegen und haben damit einen Realschulabschluss, falls sie später das Abitur nicht schaffen. Dies reagiert auf den Fall Steinhäusers, der ohne Abschluss dastand.

Journalisten und Politiker gieren nach zügigen Reaktionen

Viele Menschen erkannten nach «Erfurt» schon bald, dass neue Gesetze höchstens oberflächlich die Gier von Journalisten und Politikern nach zügigen Reaktionen befriedigen. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau sprach vielen aus dem Herzen, als er während der bewegenden Trauerfeier sagte: «Wir sollten unsere Ratlosigkeit nicht zu überspielen versuchen mit scheinbar nahe liegenden Erklärungen. Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht.»

Seine Analyse zielte tiefer und betraf das soziale Leben in der Gesellschaft: «Wir leben miteinander und kennen uns häufig nicht. Wir gehen miteinander zur Schule oder zur Arbeit, und wir kümmern uns oft nicht um den anderen.» Alle müssten sich gegen eine Verrohung der Gesellschaft wehren - «und diesen Kampf muss jeder bei sich selber beginnen», mahnte Rau. Seine Worte erscheinen brandaktuell.

Stichwort: Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt

Vor knapp sieben Jahren erschütterte der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt ganz Deutschland: Am 26. April 2002 erschoss der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser an der Schule zwölf Lehrer, die Schulsekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete.

Der Amoklauf ereignete sich am letzten Tag der schriftlichen Abiturprüfungen. Der 19-Jährige hatte sich nach Unterrichtsbeginn in die Schule begeben. Nachdem er auf der Toilette eine schwarze Maske über den Kopf gezogen hatte, erschoss er im Sekretariat die stellvertretende Direktorin und die Sekretärin. Anschließend feuerte er im Schulgebäude gezielt auf weitere Lehrer - zum Teil vor den Augen der Schüler.

Zwei Schüler kamen ums Leben, als er durch eine geschlossene Klassentür feuerte. Als die ersten Polizisten am Tatort eintrafen, wurden auch sie sofort beschossen. Ein Beamter wurde dabei tödlich getroffen. Wenige Minuten später tötete sich Steinhäuser selbst. Einem Lehrer war es zuvor gelungen, ihn in einen Raum zu stoßen und diesen abzuriegeln. Der Täter war Mitglied in einem Schützenverein und hatte sich so Zugang zu den beiden mitgeführten Waffen verschafft.

Steinhäuser war ein halbes Jahr vor dem Blutbad von der Schule geflogen, weil er ein gefälschtes ärztliches Attest vorgelegt hatte. Als Hauptmotiv wird Rache angesehen. Eine Rolle könnte auch gespielt haben, dass er am Ende ohne Abschluss dastand. Bis zu dem Zeitpunkt war für Gymnasiasten in Thüringen, die das Abitur nicht bestanden oder wie Steinhäuser vorher der Schule verwiesen wurden, kein Realschulabschluss vorgesehen. Nach dem Abschlussbericht einer Expertenkommission hatte der Ex-Schüler die Tat lange vorher geplant.

Schüler und Lehrer waren nach dem Amoklauf in ein Ausweichquartier gezogen. Nach einem Umbau und einer grundlegenden Sanierung wurde das Gutenberg-Gymnasium im August 2005 wiedereröffnet. Unter dem Dach wurde ein «Raum der Stille» zum Zurückziehen und Gedenken eingerichtet. Das Gutenberg-Gymnasium sei auf dem Weg zu einer ganz normalen Schule, erklärte der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus vor knapp einem Jahr am sechsten Jahrestag des Amoklaufs. Die Wunden der Vergangenheit würden aber «vielleicht nie vollständig verheilen». (ap)

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