Weltweit haben Menschen Kadir etwas zu verdanken. Dazu gehören Bürger in Kanada, die wieder beruhigt schlafen können. Aber auch sechs junge Polizisten in Berlin, die seinetwegen die Festnahme ihres Lebens erleben durften. Sie alle feiern den 42-Jährigen aus Neukölln als Helden.

Berlin (dapd). Weltweit haben Menschen Kadir etwas zu verdanken. Dazu gehören Bürger in Kanada, die wieder beruhigt schlafen können. Aber auch sechs junge Polizisten in Berlin, die seinetwegen die Festnahme ihres Lebens erleben durften. Sie alle feiern den 42-Jährigen aus Neukölln als Helden. Immerhin hat er den entscheidenden Tipp gegeben und dafür gesorgt, dass ein international gesuchter Straftäter von den deutschen Behörden dingfest gemacht werden konnte. Nur einer versteht die ganze Aufregung um seine Person nicht: Kadir selber. "Ich bin kein Held", sagt er. Er sei stolz auf seine Tat - das ja. Aber Helden seien andere. "Ärzte oder so", sagt er.

Trotzdem ist Kadir, klein, dunkel, schulterlanges Haar, am Dienstag mit einem großen Medienrummel auf dem Neuköllner Polizeirevier empfangen worden. Als der 42-Jährige, der in der Türkei geboren wurde und seit mehr als 30 Jahren in Berlin lebt, den Raum betritt, klicken die Kameraobjektive. Blitze zucken. Kadir hält die Hand seiner Verlobten Jessica, blond, 32, und lächelt schüchtern.

Die Berliner Polizei will sich an diesem Tag bei dem Mitarbeiter eines Neuköllner Internetcafés bedanken. Am 4. Juni hatte er in dem Laden an der Karl-Marx-Straße den unter Mordverdacht stehenden Pornodarsteller Luka Rocco Magnotta erkannt und die Polizei alarmiert. Dem 29-Jährigen wird vorgeworfen, in Kanada einen chinesischen Studenten ermordet, die Tat gefilmt und Leichenteile in Paketen verschickt zu haben. Mittlerweile wurde der Verdächtige von den deutschen Sicherheitsbehörden nach Kanada ausgeliefert.

"Sie waren hellwach, clever und couragiert in Ihrem Handeln", würdigt Polizeirat Thomas Drechsler in einer kurzen Ansprache die Tat von Kadir. Dann überreicht er ihm eine Urkunde und einen Gutschein für einen Elektronikmarkt im Wert von 100 Euro. Ein- bis zweimal im Jahr ehrt der stellvertretende Revierleiter Berliner Bürger, die in dem Neuköllner Polizeiabschnitt Zivilcourage gezeigt und sich bei der Aufklärung von Verbrechen verdient gemacht haben. Meistens gemütlich bei einer Tasse Kaffee - ohne Presse.

Kadir lässt den Rummel freundlich über sich ergehen. Er antwortet mit leiser, zarter Stimme auf alle Fragen. Er hält die Urkunde hoch, schüttelt Hände. Er zeigt viel Geduld und Besonnenheit.

Er weist dem Fremden Platz 27 zu und ruft die Polizei

Geduld und Besonnenheit hat er auch am 4. Juni 2012 gezeigt - dem Tag der weltweit beachteten Festnahme. Es ist ein Montag. Gegen 13.30 Uhr betritt ein Mann den Laden, der in Neukölln zwischen einer Bäckerei und einem Krempelladen liegt. Der Fremde spricht Französisch. Kadir versteht zwei Worte: "Monsieur" und "Internet". Er weist ihm Platz 27 zu. Aber etwas kommt ihm seltsam vor. "Es waren die Wangenknochen, die mir aufgefallen sind", sagt Kadir.

In den Tagen zuvor hat er bereits viele Berichte über den gesuchten Straftäter gelesen. Jetzt meint er, ihn wiedererkannt zu haben. Aber er will erst ganz sicher gehen. Schließlich lässt man seine Kunden nicht auf Verdacht verhaften. Das traut sich Kadir nicht zu - auch wenn er schon sechs Jahre in dem Laden arbeitet. "Ich war nervös, ob er das wirklich ist", sagt er. Mehrfach sei er deshalb um den Mann herumgeschlichen. Dann sieht er plötzlich, dass er sich im Netz Berichte über den Mordfall in Kanada anschaut. Der Mann auf den Fahndungsbildern stimmt mit dem Mann vor dem Computer überein.

Dann geht alles ganz schnell. Kadir verlässt den Laden und winkt einen zufällig vorbeifahrenden Polizeiwagen heran. Darin sitzen laut Polizeisprecher Stefan Redlich sechs Auszubildende im dritten Lehrjahr zusammen mit ihrem Ausbilder. Die Gruppe geht mit Kadir in den Laden. In einer kurzen Befragung windet sich Magnotta noch, doch dann ergibt er sich in sein Schicksal und sagt: "You've got me."

Kadir findet viele neue Freunde bei Facebook

Für die Kollegen sei das vermutlich die "Festnahme ihres Lebens" gewesen, sagt Redlich. Zwei Tage lang sei die Berliner Polizei von den kanadischen Medien belagert worden. Von überall her habe man Glückwünsche für die Arbeit erhalten. Ohne die Hilfe von Kadir wäre es wahrscheinlich aber nicht gegangen. "Ich weiß nicht, ob viele andere Berliner ihn erkannt und so besonnen gehandelt hätten", sagt Drechsler.

Redlich zufolge gab es zwar Hinweise, dass Magnotta von Kanada über Paris nach Deutschland geflüchtet sein könnte. Aber wie sollte man ihn ausfindig machen? In einem Blog hatte der Kanadier bereits Jahre zuvor darüber philosophiert und nachgedacht, wie man komplett untertauchen könnte. "Wir waren auf alle Tricksereien gefasst", sagt Redlich. Am Ende habe der Verdächtige aber nur eine Sonnenbrille getragen.

Kadir hat nun viele neue Freunde gewonnen. Vor allem bei Facebook ist er sehr beliebt geworden, berichtet er. Alle klopfen ihm nun auf die Schulter und nennen ihnen einen Helden. Familie, Freunde, Verwandte - die seien schon alle sehr stolz auf ihn, sagt seine Verlobte. Aber auch sie kann die Aufregung nicht ganz verstehen. Ihr Leben habe sich durch das Erlebnis eigentlich nicht verändert, stellt Jessica klar. "Für mich war er vorher auch schon ein Held."

dapd